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Sie unterbrach ihn: »Vorläufig wird es schon so weitergehen, wie es eben
jahrelang gegangen ist. Aber ich hab heute früh über vielerlei nachgedacht.«
»Die Gesangschule?«
»Auch das. Obzwar das natürlich nicht so leicht ist und nicht so einfach –
und überdies«, setzte sie mit ihrem verschmitzten Gesicht hinzu, »es wäre
doch schade, wenn man sie gar zu bald wieder zusperren müßte. Aber über all
das werden wir nachher reden. Jetzt geh einmal telegraphieren.«
»Ja was?« rief er so verzweifelt aus, daß sie lachen mußte. Dann sagte sie:
»Sehr einfach. Werde morgen mittag die Ehre haben, mich in Ihrer Kanzlei
einzufinden. Aller-, alleruntertänigst, oder ergebenst… oder
allerhochmütigst… «
Er sah sie an. Dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du bist entschieden
die Gescheitere von uns zweien.« Sein Ton deutete an: auch die Kühlere, aber
ein Blick von ihr, mild, zärtlich und etwas spöttisch, lehnte diesen Nebensinn
ab.
»Also in zehn Minuten bin ich wieder da.« Er verließ sie mit heiterer Stirn,
trat ins Nebenzimmer und schloß die Türe. Gegenüber, hinter jener andern,
jetzt fiel es ihm mit Macht wieder ein, – lag sein totes Kind im Sarg… denn
das »Nötige«, wie gestern Doktor Stauber sich ausgedrückt hatte, war ja wohl
schon besorgt worden. In einer wehen Sehnsucht krampfte sich sein Herz.
Frau Golowski kam aus dem Vorzimmer. Sie trat auf ihn zu, sprach
bewundernd von der Ergebenheit und der Gefaßtheit Annas. Georg hörte
etwas zerstreut zu. Seine Blicke glitten immerfort über jene Türe hin, und
endlich sagte er leise: »Ich möcht es doch noch einmal sehen.«
Sie schaute ihn an, leicht erschrocken zuerst und dann mitleidig.
»Schon zugenagelt?« fragte er angstvoll.
»Schon fortgeschafft«, erwiderte Frau Golowski langsam.
»Fortgeschafft?!« Sein Gesicht verzerrte sich mit einmal so peinvoll, daß
die alte Frau wie beruhigend die Hände auf seinen Arm legte. »Ich war in
aller Früh die Anmeldung machen«, sagte sie, »und das andre ist dann sehr
schnell gegangen. Vor einer Stunde hat man’s abgeholt in die Totenkammer.«
In die Totenkammer… Georg erbebte. Und er schwieg lange, verstört, wie
wenn er eine völlig unerwartete grauenhafte Neuigkeit erfahren hatte. Als er
wieder zu sich kam, fühlte er noch immer die freundliche Hand Frau
Golowskis auf seinem Arm und sah ihren Blick aus übernächtigen, gütigen
Augen auf seinem Antlitz ruhen.
»Also erledigt«, sagte er, mit einem empörten Blick nach oben, als wär ihm
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik