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Die Lichter verlöschten, das Vorspiel zum dritten Akt begann. Georg hörte
müde Meereswellen an ein ödes Ufer branden und die wehen Seufzer eines
totwunden Helden in bläulich dünne Luft verwehen. Wo hatte er dies nur zum
letztenmal gehört? War es nicht in München gewesen?… Nein, es konnte
noch nicht so lange her sein. Und plötzlich fiel ihm die Stunde ein, da auf
einem Balkon, unter hölzernem Giebel die Blätter der Tristanpartitur vor ihm
offen gelegen waren. Drüben zwischen Wald und Wiese war ein besonnter
Weg zum Friedhof hingezogen, ein Kreuz hatte golden geblinkt; unten im
Hause hatte eine geliebte Frau in Schmerzen aufgestöhnt, und ihm war weh
ums Herz gewesen. Und doch, auch diese Erinnerung hatte ihre
schwermutvolle Süßigkeit, wie alles, was völlig vergangen war. Der Balkon,
der kleine, blaue Engel zwischen den Blumen, die weiße Bank unter dem
Birnbaum… wo war das nun alles! Noch einmal mußte er jenes Haus
wiedersehen, einmal noch, ehe er Wien verließ.
Der Vorhang hob sich. Sehnsüchtig tönte die Schalmei, unter einem blaß
und gleichgültig hingespannten Himmel, im Schatten von Lindenästen
schlummerte der verwundete Held, und ihm zu Häupten wachte Kurwenal,
der treue. Die Schalmei schwieg, über die Mauer beugte sich fragend der Hirt
und Kurwenal gab Antwort. Wahrhaftig, das war eine Stimme von besonderen
Klang. Wenn wir solch einen Bariton hätten, dachte Georg. Und mancherlei
andres, was uns fehlt! Wenn man ihm nur die nötige Macht in die Hand gäbe,
er fühlte sich berufen im Laufe der Zeit aus dem bescheidenen Theater, an
dem er wirkte, eine Bühne ersten Ranges zu machen. Er träumte von
Musteraufführungen, zu denen die Menschen von allen Seiten strömen
müßten; nicht mehr als Abgesandter saß er nun da, sondern als einer, dem es
vielleicht beschieden war, selber in nicht allzu fernen Tagen Leiter zu sein.
Weiter und höher liefen seine Hoffnungen. Vielleicht nur ein paar Jahre
vergingen – und selbstgefundene Harmonien klangen durch einen festlich-
weiten Raum; und die Hörer lauschten ergriffen, wie heute diese hier,
während irgendwo draußen eine schale Wirklichkeit machtlos vorbeifloß.
Machtlos? Das war die Frage!… Wußte er denn, ob ihm gegeben war
Menschen durch seine Kunst zu zwingen, wie dem Meister, der sich heute
hier vernehmen ließ? Sieger zu werden über das Bedenkliche, Klägliche,
Jammervolle des Alltags? Ungeduld und Zweifel wollten aus seinem Innern
emporsteigen; doch rasch bannten Wille und Einsicht sie von dannen, und nun
fühlte er sich wieder so rein beglückt wie immer, wenn er schöne Musik
hörte, ohne daran zu denken, daß er selbst oft als Schöpfer wirken und gelten
wollte. Von allen seinen Beziehungen zu der geliebten Kunst blieb in solchen
Augenblicken nur die eine übrig, sie mit tieferem Verstehen aufnehmen zu
dürfen, als irgend ein anderer Mensch. Und er fühlte, daß Heinrich die
Wahrheit gesprochen hatte, als sie zusammen durch einen von Morgentau
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik