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wahrhaft zu Hause fühle, als das Land der sozialen Unaufrichtigkeiten zu
bezeichnen. Hier wie nirgends anderswo gebe es wüsten Streit ohne Spur von
Haß und eine Art von zärtlicher Liebe, ohne das Bedürfnis der Treue.
Zwischen politischen Gegnern existierten oder entwickelten sich lächerliche
persönliche Sympathien; Parteifreunde hingegen beschimpften, verleumdeten,
verrieten einander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten
über Dinge oder Menschen, jedenfalls seien auch diese wenigen allzuschnell
bereit, Einschränkungen zu machen, Ausnahmen gelten zu lassen. Man habe
hier beim politischen Kampf geradezu den Eindruck, wie wenn die scheinbar
erbittertsten Gegner, während die bösesten Worte hinüber und herüberflögen,
einander mit den Augen zuzwinkerten: »Es ist nicht so schlimm gemeint.«
»Was glauben Sie, Skelton«, fragte Willy, »zwinkern sie auch, wenn die
Kugeln hin und herfliegen?«
»Sie täten’s wohl, Willy, wenn nicht der Tod hinter ihnen stünde. Aber
dieser Umstand beeinflußt nicht die Gesinnung, sondern nur die Haltung,
denk ich mir.«
Sie saßen noch lange Zeit zusammen und plauderten fort. Georg hörte
allerlei Neuigkeiten. Er erfuhr unter anderm, daß Demeter Stanzides den Kauf
des Gutes an der ungarisch-kroatischen Grenze abgeschlossen habe, und daß
die Rattenmamsell einem freudigen Ereignis entgegensehe. Willy Eißler war
gespannt auf das Ergebnis dieser Rassenkreuzung und vergnügte sich indes
damit, Namen für das zu erwartende Kind zu erfinden, wie Israel Pius oder
Rebekka Portiunkula.
Später begab sich die ganze Gesellschaft ins benachbarte Kaffeehaus,
Georg spielte mit Breitner eine Partie Billard; dann ging er auf sein Zimmer.
Im Bett notierte er sich eine Stundeneinteilung für den nächsten Tag und sank
endlich in einen Schlaf, der tief und köstlich wurde.
Am Morgen mit dem Tee brachte man ihm die abends vorher bestellte
Zeitung und ein Telegramm. Der Intendant bat ihn über einen Sänger zu
berichten. Es war zur Befriedigung Georgs derjenige, den er gestern als
Kurwenal gehört hatte. Ferner wurde ihm freigestellt »zur bequemen Ordnung
seiner Angelegenheiten« drei Tage über den bedungenen Urlaub
auszubleiben, da zufällig eine Änderung des Spielplans dies gestatte. Wirklich
charmant, dachte Georg. Es fiel ihm ein, daß er seine eigene Absicht, um
Verlängerung des Urlaubs zu depeschieren, vollkommen vergessen hatte. Nun
hab ich ja noch mehr Zeit für Anna, als ich geglaubt hätte, dachte er. Man
könnte vielleicht ins Gebirge. Die Herbsttage sind schön und mild. Auch wäre
man jetzt überall ziemlich allein und ungestört. Aber, wenn wieder ein
Malheur passiert! Ein – Malheur – passiert! – So und nicht anders waren ihm
die Worte durch den Sinn geflogen. Er biß sich auf die Lippen. So stellte sich
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik