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die Sache mit einem Male für ihn dar? Ein Malheur… Wo war die Zeit, da er,
mit Stolz beinahe, sich als ein Glied in der endlosen Kette gefühlt hatte, die
von Urahnen zu Urenkeln ging? Und ein paar Augenblicke lang erschien er
sich wie ein Herabgekommener der Liebe, etwas bedenklich und
bedauernswert.
Er durchflog die Zeitung. Durch einen kaiserlichen Gnadenakt war die
Untersuchung gegen Leo Golowski eingestellt, gestern Abend war er aus der
Haft entlassen worden. Georg freute sich sehr und beschloß Leo noch heute
zu besuchen. Dann setzte er ein Telegramm an den Grafen auf und berichtete
mit vornehmer Ausführlichkeit über die gestrige Aufführung. Als er auf die
Straße trat, war es beinahe elf Uhr geworden. Die Luft war herbstlich kühl
und klar. Georg fühlte sich ausgeschlafen, frisch und wohlgelaunt. Der Tag
lag hoffnungsreich vor ihm und versprach allerlei Anregung. Nur irgend
etwas störte ihn, ohne daß er gleich wußte, was es wäre. Ach ja,… der Besuch
in der Paulanergasse, die trübseligen Räume, der kranke Vater, die verletzte
Mutter. Ich werde Anna einfach abholen, dachte er, mit ihr spazieren gehen
und irgendwo mit ihr soupieren. Er kam an einem Blumenladen vorbei, kaufte
wundervolle dunkelrote Rosen, und mit einer Karte, auf die er schrieb:
»Tausend Morgengrüße, auf Wiedersehen«, ließ er sie an Anna senden. Als er
dies getan hatte, war ihm leichter. Dann begab er sich durch die Straßen der
innern Stadt zu dem alten Hause, in dem Nürnberger wohnte. Er stieg die fünf
Stockwerke hinauf. Eine huschelige, alte Magd mit dunklem Kopftuch öffnete
und ließ ihn in das Zimmer ihres Herrn treten. Nürnberger stand am Fenster
mit leicht gesenktem Kopf, in dem braunen, hochgeschlossenen Sacco, das er
daheim zu tragen liebte. Er war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem
alten Armstuhl erhob sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen.
Georg wurde herzlich empfangen.
»Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper im
Zusammenhang stehen?« fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung nicht
ohne weiteres als Spaß gelten. »Ich bitte Sie«, sagte er, »wenn kleine Jungen,
die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem nur durch den
regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumentieren in der Lage
waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen werden, so sähe ich
keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wergenthin, nach der immerhin
mühevollen, sechswöchentlichen Kapellmeisterkarriere an einem deutschen
Hoftheater, im Triumph an die Wiener Oper geholt würde.«
Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen kurzen Urlaub
erhalten, um seine Wiener Angelegenheiten zu ordnen; und vergaß nicht zu
erwähnen, daß er gestern die neue Tristaninszenierung gewissermaßen im
Auftrag seiner Intendanz gesehen habe; doch lächelte er dazu mit
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Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik