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sein.«
»Das ist aber doch eigentlich schön«, sagte Georg, »daß er gerecht ist.«
Nürnberger schüttelte den Kopf. »Überall mag man es sein – nur nicht im
Drama.« Und sich wieder an Heinrich wendend: »In solch einem Stück, das
eine Zeitfrage behandelt, oder gar mehrere, wie es Ihre Absicht war, werden
Sie mit der Objektivität nie was erreichen. Das Publikum im Theater verlangt,
daß die Themen, die der Dichter anschlägt, auch erledigt werden, oder daß
wenigstens eine Täuschung dieser Art erweckt werde. Denn natürlich gibt’s
nie und nimmer eine wirkliche Erledigung. Und scheinbar erledigen kann
eben nur einer, der den Mut oder die Einfalt oder das Temperament hat, Partei
zu ergreifen. Sie werden schon darauf kommen, lieber Heinrich, daß es mit
der Gerechtigkeit im Drama nicht geht.«
»Wissen Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »es ging vielleicht auch mit der
Gerechtigkeit. Ich glaub, ich hab nur nicht die richtige. In Wirklichkeit hab
ich nämlich gar keine Lust gerecht zu sein. Ich stell mir’s sogar wunderschön
vor ungerecht zu sein. Ich glaube, es wäre die allergesündeste
Seelengymnastik, die man nur treiben könnte. Es muß so wohl tun, die
Menschen, deren Ansichten man bekämpft, auch wirklich hassen zu können.
Es erspart einem gewiß sehr viel innere Kraft, die man viel besser auf den
Kampf selbst verwenden dürfte. Ja, wenn man noch die Gerechtigkeit des
Herzens hätte… Ich hab sie aber nur da«, und er deutete auf seine Stirn. »Ich
stehe auch nicht über den Parteien, sondern ich bin gewissermaßen bei allen
oder gegen alle. Ich hab nicht die göttliche Gerechtigkeit, sondern die
dialektische. Und darum… «, er hielt sein Manuskript in die Höhe, »ist da
auch so ein langweiliges und unfruchtbares Geschwätz herausgekommen.«
»Weh dem Manne«, sagte Nürnberger, »der sich erdreistete derartiges über
Sie zu schreiben.«
»Na ja«, erwiderte Heinrich lächelnd. »Wenn’s ein anderer sagt, kann man
nie den leisen Verdacht unterdrücken, daß er recht haben könnte. Aber nun
muß ich wirklich gehen. Grüß Sie Gott, Georg. Ich bedaure sehr, daß Sie mich
gestern verfehlt haben. Wann reisen Sie denn wieder ab?«
»Morgen.«
»Aber man sieht Sie doch noch vor Ihrer Abreise? Ich bin heute den ganzen
Nachmittag und Abend zu Hause, kommen Sie, wann es Ihnen paßt. Sie
werden einen Menschen finden, der sich mit Entschlossenheit von den
Zeitfragen ab und wieder den ewigen Problemen zugewandt hat: Tod und
Liebe… Glauben Sie übrigens an den Tod, Nürnberger? Hinsichtlich der
Liebe frag ich schon gar nicht.«
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik