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Schülern nicht zu blamieren. Die Leute sind ja sehr nett gegen mich gewesen.
Bücher hab ich gehabt, soviel ich wollte. Aber ein Klavier haben sie mir doch
nicht zur Verfügung gestellt.« Er wandte sich an Therese: »Das solltest du in
einer deiner nächsten Reden unbedingt geißeln. Diese schlechte Behandlung
der Untersuchungshäftlinge muß abgestellt werden.«
»Gestern um die Zeit«, sagte der alte Golowski, »war ihm wirklich noch
nicht zum Lachen.«
»Wenn du vielleicht glaubst«, meinte Therese, »daß der Glücksfall, der dir
begegnet ist, meine Ansichten ändern wird, so irrst du dich gewaltig. Im
Gegenteil.« Und zu Georg gewandt fuhr sie fort: »Theoretisch bin ich nämlich
absolut dagegen, daß sie ihn herausgelassen haben.« Sie sprach wieder zu Leo
hin: »Wenn du den Kerl, wie es ja dein gutes Recht gewesen wäre, einfach
totgeschlagen hättest, ohne diese ekelhafte Duellkomödie, wärst du nie frei
geworden, säßest deine fünf bis zehn Jahre ab, heilig. Weil du dich aber auf
dieses grauenvolle, vom Staat konzessionierte Hazardspiel um Leben und Tod
eingelassen, weil du dich also vor der militärischen Weltanschauung geduckt
hast, bist du begnadigt worden. Hab ich nicht recht?« wandte sie sich wieder
an Georg.
Der nickte nur und dachte an den armen jungen Menschen, den Leo
erschossen und der eigentlich gar nichts anderes gegen die Juden gehabt hatte,
als daß sie ihm so zuwider gewesen waren, wie schließlich den meisten
Menschen – und dessen Schuld im Grunde nur darin bestanden hatte, daß er
an den Unrechten gekommen war. Leo strich seiner Schwester übers Haar und
sagte: »Siehst du, wenn du das, was du hier in diesen vier Wänden gesagt
hast, nächstens öffentlich aussprächest, dann würdest du mir imponieren.«
»Na und du mir«, erwiderte Therese, »wenn du dir morgen samt dem alten
Ehrenberg ein Billett nach Jerusalem löstest.«
Sie standen vom Tisch auf. Leo lud Georg ein, mit ihm in sein Zimmer zu
kommen.
»Stör’ ich euch?« fragte Therese. »Ich möcht nämlich auch was von ihm
haben.«
Sie saßen alle drei in Leos Zimmer und plauderten. Leo schien sich der
wiedergewonnenen Freiheit unbedenklich und reuelos zu freuen, was Georg
sonderbar berührte. Therese saß auf dem Divan, in einem dunkeln
anliegenden Kleid und sah heute zum erstenmal wieder der jungen Dame
ähnlich, die in Lugano als die Geliebte eines Kavallerieoffiziers unter einer
Platane Asti getrunken und nachher einen anderen geküßt hatte. Sie bat Georg
Klavier zu spielen. Noch nie hatte sie ihn gehört. Er setzte sich hin, spielte
einiges aus Tristan und phantasierte dann mit glücklicher Eingebung. Leo
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik