Seite - 290 - in Der Weg ins Freie
Bild der Seite - 290 -
Text der Seite - 290 -
blicken lasse.
Georg nahm ihn in Schutz und fühlte sich verpflichtet, festzustellen, daß
Heinrich fleißiger wäre als je. Aber Frau Ehrenberg hatte auch andre
Beispiele für den verderblichen Einfluß der Wiener Luft. Nürnberger vor
allem, der sich nun vollkommen von der Welt abzuschließen scheine. Und
was mit Oskar passiert sei… hätte das in einer andern Stadt als in Wien
geschehen können? Ob Georg übrigens wüßte, daß Oskar mit dem Prinzen
von Guastalla auf Reisen wäre? Sie tat, als fände sie daran nichts Besonderes,
Georg merkte ihr aber an, daß sie ein wenig stolz war und irgendwie die
Meinung hegte, als hätte mit Oskar sich schließlich doch noch alles zum
Guten gefügt. –
Während Georg mit Frau Ehrenberg sprach, sah er zuweilen die Blicke
Elses auf sich gerichtet, die sich mit James in den Erker zurückgezogen hatte,
– wissende, schwermütige Blicke, die ihn beinahe durchschauerten. Er
empfahl sich bald, fühlte einen unbegreiflich fremden Händedruck von Else,
gleichgültig-liebenswürdige von den andern und ging.
Wie das nur zugeht, dachte er im Wagen, der ihn zu Heinrich führte. Die
Leute wußten alles früher als er selbst. Sie hatten von seinem Verhältnis mit
Anna gewußt, ehe es angefangen – und jetzt wußten sie wieder früher als er,
daß es zu Ende war. Er hatte nicht übel Lust, ihnen allen zu beweisen, daß sie
sich irrten. Freilich, in solch einer Lebenssache durfte man sich durch Trotz
am wenigsten bestimmen lassen. Es war gut, daß nun ein paar Monate kamen,
in denen er sich wieder sammeln, alles reiflich erwägen konnte. Auch für
Anna würde es gut sein; für sie vielleicht ganz besonders. Der gestrige
Spaziergang mit ihr im Regen über die feuchtbräunlichen Straßen fiel ihm
wieder ein und erschien ihm wie etwas unsagbar Trauriges. Ach, die Stunden
in dem gewölbten Zimmer, in das von drüben durch den wallenden
Schneevorhang die Orgel hereinklang! Wo waren sie! Diese und so viele
andre wundervolle Stunden, wo waren sie hin! Er sah sich und Anna im
Geiste wieder, ein junges Paar auf der Hochzeitsreise, durch Gassen wandeln,
in denen der wunderbare Hauch der Fremde war; banale Hotelräume, in
denen er nur für kurze Tage mit ihr geweilt, tauchten vor ihm plötzlich wieder
auf und waren wie geweiht vom Duft der Erinnerung… Dann erschien ihm
die Geliebte auf einer weißen Bank, unter schweren Ästen, die hohe Stirn von
einer trügerischen Ahnung sanfter Mütterlichkeit umflossen – und endlich
stand sie da, ein Notenblatt in der Hand und weiße Vorhänge bewegten sich
leise im Winde. – Und als er sich bewußt wurde, daß es dasselbe Zimmer war,
in dem sie jetzt seiner wartete – und daß nicht viel mehr als ein Jahr
verflossen, seit jener abendlichen Spätsommerstunde, da sie, von ihm
begleitet, sein Lied zum erstenmal ihm vorgesungen – atmete er in seiner
290
zurück zum
Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik