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Mörder oft durch weiter nichts unterschieden, als durch einen höhern Grad
von Bequemlichkeit und Feigheit… «
»Machen Sie sich am Ende Vorwürfe, Heinrich? Wenn Sie dran geglaubt
hätten, daß es so kommen mußte – Sie hätten sie ja doch nicht – sterben
lassen.«
»Vielleicht. Ich weiß nicht. Aber eins kann ich Ihnen sagen, Georg, wenn
sie noch lebte… das heißt, wenn ich ihr verziehen hätte, wie Sie sich
gelegentlich auszudrücken beliebten, so käme ich mir schuldiger vor, als ich
mir heute erscheine. Ja, ja, so ist es nun einmal. Ich will’s Ihnen gar nicht
verhehlen, Georg, es gab eine Nacht… ein paar Nächte gab es, da war ich wie
vernichtet vor Schmerz, vor Verzweiflung, vor… nun, andre hätten es eben
für Reue gehalten. Es war aber nichts derart. Denn mitten in meinem
Schmerz, in meiner Verzweiflung hab ich’s ja gewußt, daß dieser Tod etwas
Erledigendes, etwas Versöhnendes, etwas Reines bedeutete. Wär ich schwach
gewesen, oder weniger eitel… wie Sie’s eben auffassen wollen… wär sie
wieder meine Geliebte geworden, so wäre viel schlimmeres gekommen, als
dieser Tod, auch für sie… Ekel und Qual, Wut und Haß wären um unser Bett
gekrochen… unsere Erinnerungen wären verfault, Stück für Stück, ja, bei
lebendigem Leibe wäre unsere Liebe verwest. Es durfte nicht sein. Ein
Verbrechen wär es gewesen, dieses todkranke Verhältnis weiterzufristen, so
wie es ein Verbrechen ist – und in der Zukunft auch so gelten wird – das
Leben eines Menschen hinzufristen, dem ein qualvolles Sterben bestimmt ist.
Das wird Ihnen jeder vernünftige Arzt sagen. Und darum bin ich sehr fern
davon, mir Vorwürfe zu machen. Ich will mich auch nicht vor Ihnen oder
sonst jemandem auf der Welt rechtfertigen, aber es ist nun einmal so:
ich kann mich nicht schuldig fühlen. Es geht mir ja manchmal sehr schlimm,
aber mit Schuldgefühlen hat das nicht das Geringste zu tun.«
»Sie sind damals hingereist?« fragte Georg.
»Ja. Ich bin hingereist. Ich bin sogar dabeigestanden, als man den Sarg in
die Erde senkte. Ja. Mit der Mutter zusammen bin ich hingefahren.« Er stand
am Fenster, ganz im Dunkel und schüttelte sich. »Nein, nie werd ich es
vergessen. Übrigens ist es auch nur eine Lüge, daß sich Menschen in einem
gemeinsamen Leid finden. Nie finden sich Menschen, wenn sie nicht
zueinander gehören. Noch ferner werden sie einander in schweren Stunden.
Diese Fahrt! Wenn ich mich daran erinnere! Ich hab übrigens beinahe die
ganze Zeit gelesen. Es war mir unerträglich, mit der dummen, alten Person zu
reden. Man haßt doch niemanden mehr als jemand gleichgültigen, der einem
Mitleid abfordert. Wir sind auch an ihrem Grab zusammen gestanden, die
Mutter und ich. Ich, die Mutter, und ein paar Komödianten von dem kleinen
Theater… Und nachher bin ich im Wirtshaus gesessen mit ihr allein, nach
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Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik