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dem Begräbnis. Ein Leichenschmaus zu zweien. Eine hoffnungslose
Geschichte, sag ich Ihnen. Wissen Sie übrigens, wo sie begraben liegt? An
Ihrem See, Georg. Ja. Ich habe öfter an Sie denken müssen. Sie wissen ja, wo
der Friedhof liegt. Keine hundert Schritte weit vom Auhof. Man hat eine
entzückende Aussicht auf unsern See, Georg; allerdings nur wenn man
lebendig ist.«
Georg empfand ein leises Grauen. Er stand auf. »Ich muß Sie leider
verlassen, Heinrich. Ich werde erwartet. Sie verzeihen.«
Heinrich trat aus dem Dunkel des Fensters hervor, zu ihm. »Ich danke
Ihnen sehr für Ihren Besuch. Also morgen, nicht wahr? Sie gehen jetzt wohl
zu Anna? Bitte grüßen Sie sie herzlich. Ich höre ja, daß es ihr gut geht.
Therese erzählte mir’s.«
»Ja, sie sieht vortrefflich aus. Sie hat sich vollkommen erholt.«
»Das freut mich. Also auf morgen, nicht wahr? Ich freu mich sehr, daß ich
Sie noch einmal sehen kann, eh Sie abreisen. Sie müssen mir auch noch
allerlei erzählen. Ich habe ja wieder einmal nichts getan, als von mir geredet.«
Georg lächelte. Als wenn er das von Heinrich nicht gewohnt gewesen
wäre! »Auf Wiedersehen«, sagte er und ging.
Manches von dem, was Heinrich gesprochen, klang in Georg nach, als er
wieder im Wagen saß. »Wir müssen einen Dolch blitzen sehen, um zu
begreifen, daß ein Mord geschehen ist.« Georg fühlte, daß vom Sinn dieser
Worte eine gleichsam unterirdische, aber längst geahnte Beziehung zu einem
dumpfen Unbehagen hinging, das er manchmal in seiner Seele spürte. Er
dachte einer Stunde, da ihm gewesen war, als ginge in den Wolken ein Spiel
um sein ungeborenes Kind, und seltsam erschien es ihm plötzlich, daß Anna
über den Tod des Kindes mit ihm noch kein Wort gesprochen, daß sie sogar in
ihren Briefen jede Andeutung nicht nur auf den unglücklichen Ausgang,
sondern auch auf den ganzen Zeitraum, da sie das Kind unter dem Herzen
getragen, vollkommen vermieden hatte. Der Wagen näherte sich dem Ziel.
Warum klopft mir das Herz, dachte Georg. Freude?… Schlechtes
Gewissen?… Heut mit einemmal! Sie kann mir doch die Schuld nicht
geben… ? Was für Unsinn. Ich bin abgespannt und erregt zugleich, das ist es.
Ich hätte nicht herkommen sollen. Warum hab ich all diese Menschen
wiedergesehen? War mir nicht, trotz aller Sehnsucht, tausendmal wohler in
der kleinen Stadt, wo ein neues Leben für mich angefangen hatte… ?
Irgendwo anders hätte ich mit Anna zusammentreffen sollen. Vielleicht fährt
sie mit mir fort… Dann kann am Ende alles noch gut werden. Ist denn irgend
etwas schlecht… ? Sind unsere Beziehungen am Ende auch krank, und ist es
ein Verbrechen, sie weiterzufristen… ? Das könnte zuweilen eine bequeme
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik