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weiß sie… ? Ist es denn wahr… ? Ja… es ist wahr. Und er dachte der Stunde,
nach der Geburt seines toten Kindes – da er an ihrem Bett gesessen und sie
schweigend dagelegen war, den Blick in den dämmrigen Garten gerichtet…
Schon in jener Stunde hatte sie’s gewußt – früher als er – – daß alles zu Ende
war. Und er hob seine Hände vom Klavier auf, nahm die ihren, die noch
immer auf seinem Haupt lagen, fĂĽhrte sie an seine Wangen, zog sie selber
nach, bis sie wieder ganz nah bei ihm war und langsam auf seine Knie
niedersank. Und schüchtern begann er wieder: »Anna… vielleicht… könntest
du dich doch entschließen… Vielleicht wär es mir auch möglich, wenn ich
telegraphiere, noch ein paar Tage Urlaub mehr zu bekommen. Du, Anna…
hörst du… es wäre doch wunderschön… « Ganz in der Tiefe kam ihm ein
Plan. Wenn er wirklich mit ihr auf einige Tage fortreiste. Und ihr bei dieser
Gelegenheit ehrlich sagte: Es soll zu Ende sein, Anna! Aber das Ende unserer
Liebe soll schön sein, wie es der Anfang war. Nicht matt und traurig, wie
diese Stunden in deinem Elternhaus… … . Wenn ich ihr das – irgendwo auf
dem Land, ehrlich sagte… wär es nicht würdiger, ihrer und meiner – und
unseres vergangenen Glücks… ? Und in diesem Vorsatz wurde er dringender,
kühner, leidenschaftlich beinahe… und seine Worte klangen wieder wie vor
langer, langer Zeit.
Sie auf seinen Knien, die Arme um seinen Hals, erwiderte leise: »Noch
einmal – Georg, mach ich das nicht durch.«
Schon hatte er ein Wort auf den Lippen, mit dem er ihre BefĂĽrchtungen
zerstreuen konnte. Aber er hielt es zurück. Denn ausgesprochen, hätte es doch
nichts anderes bedeutet, als daĂź er wohl daran dachte, wieder ein paar
Stunden der Lust mit ihr zu durchleben, aber daĂź er nicht geneigt war,
irgendeine Verpflichtung auf sich zu nehmen. Er fĂĽhlte es: um sie nicht zu
verletzen, hätte er nur dies eine sagen dürfen: du gehörst mir für immer! Du
sollst ja ein Kind von mir haben! Zu Weihnachten, zu Ostern spätestens hol
ich dich – und nie mehr werden wir voneinander getrennt sein. Er fühlte, wie
sie dieses Wort mit einer letzten Hoffnung erwartete – mit einer Hoffnung, an
deren ErfĂĽllung sie selbst nicht mehr glaubte. Aber er schwieg. Wenn er
ausgesprochen hätte, was sie ersehnte, so hätte er sich aufs neue gebunden
und – nun wußte er es – so tief, wie er es noch nie gewußt, daß er frei sein
wollte.
Immer noch ruhte sie auf seinen Knien, ihre Wange an seine Wange
gelehnt; sie schwiegen lang und wuĂźten, daĂź dies der Abschied war.
Endlich, entschlossen sagte Georg: »Wenn du also nicht mit mir kommen
willst, Anna, dann reise ich ganz direkt zurück – morgen. Und wir sehen uns
erst im Frühjahr wieder. Bis dahin gibt’s wieder nur Briefe. Es sei denn, daß
ich zu Weihnachten, wenn’s möglich ist… «
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik