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Sie hatte sich erhoben und lehnte am Klavier. »Schon wieder ist er
leichtsinnig«, sagte sie. »Ist es nicht am Ende sogar besser, wenn wir uns erst
nach Ostern wiedersehen?«
»Warum besser?«
»Bis dahin wird – alles noch viel klarer sein.«
Er wünschte sie nicht zu verstehen. »Du meinst, wegen des Vertrags? Ja…
da muß ich mich schon in den nächsten Wochen entscheiden. Die Leute
wollen ja wissen, woran sie sind. Andererseits, auch wenn ich unterschriebe,
auf drei Jahre, und es kämen andere Chancen, gegen meinen Willen werden
sie mich nicht halten. Aber bis jetzt scheint es wirklich, daß der Aufenthalt in
der kleinen Stadt mir sehr förderlich ist. Nie hab ich so intensiv arbeiten
können, wie dort. Hab ich dir nicht geschrieben, wie ich manchmal nach dem
Theater bis drei Uhr früh an meinem Schreibtisch gesessen bin? Und war um
acht ausgeschlafen und frisch!«
Sie sah ihn immer nur an, mit einem Blick, schmerzlich und nachsichtig
zugleich, der ihn wie ein Blick des Zweifels berührte. Hatte sie nicht einmal
an ihn geglaubt! Hatte sie nicht in einer halbdunkeln Kirche vertrauensvoll
und zärtlich zu ihm gesprochen: »Ich will zum Himmel beten, daß ein großer
Künstler aus dir werde.« Wieder war ihm, als hielte sie längst nicht mehr so
viel von ihm, als in früherer Zeit. Er fühlte sich beunruhigt und fragte sie
unsicher: »Du erlaubst doch, daß ich dir meine Violinsonate schicke, sobald
sie fertig ist? Du weißt, auf niemandes Urteil geb ich so viel, wie auf deins.«
Und er dachte: wenn ich sie mir doch als Freundin erhalten könnte… oder
einmal wiedergewinnen… als Freundin… Wird es möglich sein?
Sie sagte: »Du hast mir auch von ein paar neuen Phantasiestücken
geschrieben, für Klavier allein.«
»Ganz richtig. Sie sind aber noch nicht ganz fertig. Aber ein anderes, das
ich… das ich… er fand es selbst töricht, daß er zögerte – heuer im Sommer
komponiert habe, an dem See, wo diese arme Person ertrunken ist, die
Geliebte Heinrichs, das kennst du ja auch noch nicht. Könnt ich nicht… ich
spiel dir’s vor, ganz leise, willst du?«
Sie nickte und schloß die Tür. Dort, hinter ihm blieb sie regungslos stehen,
als er begann.
Und er spielte. Er spielte das kleine, leidenschaftlich-schwermütige Stück,
das er an seinem See komponiert hatte, als Anna und das Kind für ihn völlig
vergessen waren. Es erleichterte ihn sehr, daß er es ihr vorspielen durfte. Sie
mußte ja verstehen, was diese Töne zu ihr sprachen. Es war gar nicht
möglich, daß sie es nicht verstand. Er hörte sich selbst gleichsam sprechen
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik