Seite - 300 - in Der Weg ins Freie
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aus diesen Tönen; ja ihm war, als verstände er jetzt erst völlig sich selbst. Leb
wohl, Geliebte, leb wohl. Es war schön. Und nun ist es vorbei… Leb wohl
Geliebte… Was uns beiden gemeinsam bestimmt war, haben wir durchlebt.
Und was nun kommen mag, für mich und für dich, wir werden einander etwas
Unvergeßliches bedeuten. Nun geht mein Leben einen andern Weg… Und
deines auch. Es muß vorbei sein… Ich hab dich geliebt. Ich küsse deine
Augen… Ich danke dir, du Gütige, Sanfte, Schweigende. Leb wohl,
Geliebte… Leb wohl… Die Töne verklangen. Er hatte nicht von den Tasten
aufgesehen, während er spielte; jetzt wandte er sich langsam nach ihr um.
Ernst, mit leise zitternden Lippen stand sie hinter ihm. Er faßte ihre Hände
und küßte sie. »Anna, Anna… !« rief er aus. Das Herz wollte ihm
zerspringen.
»Vergiß mich nicht ganz«, sagte sie leise.
»Ich schreib dir, sobald ich wieder dort bin.«
Sie nickte.
»Und du mir auch, Anna… Und alles… alles… verstehst du mich.«
Sie nickte wieder.
»Und… und… morgen früh seh ich dich noch einmal.«
Sie schüttelte den Kopf. Er wollte etwas erwidern, wie erstaunt – als
verstünde es sich eigentlich von selbst, daß er sie noch einmal vor der Abreise
sehen müßte. Sie erhob leicht die Hand, als bäte sie ihn zu schweigen. Er
stand auf, drückte sie an sich, küßte ihren Mund, der kühl war und seinen Kuß
nicht erwiderte, und verließ das Zimmer. Sie blieb zurück, mit schlaffen
Armen, stehend, die Augen geschlossen. Er eilte die Treppen hinab. Unten
auf der Straße war ihm, als müßte er noch einmal hinauf – ihr sagen: »Es ist ja
alles nicht wahr! Das war nicht der Abschied. Ich liebe dich ja. Ich gehöre dir.
Es kann nicht zu Ende sein… «
Aber er fühlte, daß er es nicht durfte. Jetzt nicht. Morgen vielleicht. Von
heute Abend bis morgen früh würde sie ihm nicht entglitten sein… Und er
eilte umher, planlos, durch leere Straßen, wie in einem leichten Rausch von
Schmerz und Freiheit. Er war froh, daß er sich mit niemandem verabredet
hatte und allein bleiben durfte. Weit draußen in einem niedern, alten,
rauchigen Wirtshaus, wo an Nebentischen Menschen aus einer andern Welt
saßen, in einer stillen Ecke nahm er sein Nachtmahl und erschien sich wie in
einer fremden Stadt: einsam, ein wenig stolz auf seine Einsamkeit und ein
wenig durchschauert von seinem Stolz.
Am nächsten Tag um die Mittagsstunde spazierte Georg mit Heinrich durch
die Alleen des Dornbacher Parks. Eine Luft, die von dünnen Nebeln schwer
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Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik