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dem ungeborenen, sondern auch der Mutter war ich fern in einer so
unheimlichen Weise, daß ich es Ihnen beim besten Willen nicht schildern, daß
ich’s heut selber kaum mehr begreifen kann. Und es gibt Momente, da kann
ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß zwischen jenem Vergessen und
dem Tod meines Kindes irgendein Zusammenhang bestehen müßte. Halten
Sie denn so was für vollkommen ausgeschlossen?«
Heinrich hatte tiefe Falten in der Stirn. »Vollkommen ausgeschlossen, das
kann man nicht einmal sagen. Die Wurzeln verschlingen sich ja gewiß oft so
tief, daß wir unmöglich bis dort hinabschauen können. Ja vielleicht gibt es
sogar solche Zusammenhänge. Aber wenn es solche gibt… nicht für Sie
Georg! Für Sie hätten diese Zusammenhänge keine Geltung, auch wenn sie
existierten.«
»Für mich keine Geltung?«
»Der ganze Einfall, den Sie da ausgesprochen haben, der paßt mir nicht zu
Ihnen. Der kommt nicht aus Ihrer Seele. Bestimmt nicht. Nie in Ihrem Leben
wär Ihnen etwas Derartiges eingefallen, wenn Sie nicht mit einem Subjekt
meiner Art verkehrten und es nicht zuweilen Ihre Art wäre, nicht Ihre
Gedanken zu denken, sondern die von Menschen, die stärker – oder auch
schwächer sind als Sie. Und ich versichre Sie, was Sie auch an dem See dort,
an Ihrem… an unserm… erlebt haben mögen, Sie haben damit gewiß keine
sogenannte Schuld auf sich geladen. Bei einem andern wär es vielleicht
Schuld gewesen. Aber bei Ihnen, der von Natur aus – Sie verzeihen schon –
ziemlich leichtfertig und ein bißchen gewissenlos angelegt ist, war es gewiß
nicht Schuld. Soll ich Ihnen was sagen? Sie fühlen sich nämlich gar nicht
schuldig in Hinsicht auf das Kind, sondern das Unbehagen, das Sie spüren,
kommt nur daher, daß Sie die Verpflichtung zu haben glauben sich schuldig
zu fühlen. Sehen Sie, ich, wenn ich irgend was in der Art Ihres Abenteuers
erlebt hätte, wäre vielleicht schuldig geworden, weil ich mich möglicherweise
schuldig gefühlt hätte.«
»Sie Heinrich, hätten sich in meinem Falle schuldig gefühlt?«
»Vielleicht auch nicht. Wie kann ich das wissen. Sie denken jetzt
wahrscheinlich daran, daß ich neulich ein Wesen direkt in den Tod getrieben
und mich trotzdem sozusagen ohne Schuld gefühlt habe?«
»Ja daran denk ich. Und darum versteh ich nicht… «
Heinrich zuckte die Achseln. »Ja. Ich hab mich ohne Schuld gefühlt.
Irgendwo in meiner Seele. Und wo anders, tiefer vielleicht, hab ich mich
schuldig gefühlt… und noch tiefer, wieder schuldlos. Es kommt immer nur
darauf an, wie tief wir in uns hineinschauen. Und wenn die Lichter in allen
Stockwerken angezündet sind, sind wir doch alles auf einmal: schuldig und
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Buch Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Titel
- Der Weg ins Freie
- Autor
- Arthur Schnitzler
- Datum
- 1908
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 306
- Schlagwörter
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Kategorien
- Weiteres Belletristik