Das „Klagenfurter Manifest", 1965#
Die österreichische Volkspartei ist die politische Vereinigung aller Österreicher und Österreicherinnen, die sich zur Ordnung der Gesellschaft auf der Grundlage der solidarischen Verbundenheit aller Bevölkerungsschichten bekennen. Ihr Ziel ist es, dem Menschen, der für sie Träger unveräußerlicher Rechte ist, die Möglichkeit der freien Entfaltung seiner Kräfte in Unterordnung unter das Gemeinwohl zu geben. Ohne sich an eine Konfession zu binden, läßt sich die ÖVP vom christlichen, familienhaften Menschen- und Gesellschaftsbild mit seinen zeitlos gültigen Werten der Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit leiten. Als vaterlandsbewußte Partei fühlt sie sich jenen Kulturgütern und Lebensformen verpflichtet, die Österreich im Laufe seiner Geschichte hervorgebracht hat.Österreich — Vaterland in Europa#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zu Österreich.
Für die österreichische Volkspartei ist der Begriff Österreich mit einer jahrhundertelangen Geschichte untrennbar verbunden. Zugleich mit dem wiedererstandenen Österreich im Jahre 1945 gegründet, war die österreichische Volkspartei 1955 an der Wiederherstellung der vollen Freiheit des österreichischen Staates maßgeblich beteiligt. Sie ist entschlossen, die Unabhängigkeit, Unteilbarkeit und Unverletzlichkeit der Republik Österreich mit allen Mitteln zu gewährleisten. Die österreichische Volkspartei tritt daher für eine wirksame Landesverteidigung ein. Sie erblickt in der militärischen Neutralität Österreichs die sicherste Garantie für die Bewahrung der Eigenständigkeit. Die Neutralität kommt erneut der Brückenfunktion zugute, die Österreich in der Vergangenheit stets ausgeübt hat und auch in Hinkunft zu erfüllen bereit ist. Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur Verpflichtung Österreichs, zum Frieden und zur Wohlfahrt in der ganzen Welt nach Kräften beizutragen und in den verschiedenen internationalen Organisationen mitzuarbeiten. Die Zukunft Österreichs als lebensfähiger und neutraler Staat muß auch im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit Europas sichergestellt werden. Für die österreichische Volkspartei ist die Wahrung der Gesamtinteressen des österreichischen Volkes oberstes nationales Gebot.
Demokratie — die Regierungsform der Freiheit#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur Demokratie.
Sie versteht unter Demokratie das Mehrparteiensystem als Ausdruck und wesenhafte Voraussetzung der geistigen und politischen Freiheit des Staatsbürgers. Die österreichische Volkspartei steht daher ohne jeden Vorbehalt auf dem Boden der geltenden Bundesverfassung. Damit bekennt sie sich zur Notwendigkeit, der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Weiterbildung unserer verfassungsmäßigen Grundlagen immer von neuem gerecht zu werden. Demokratie ist für sie die einzige Methode, alle Staatsbürger und alle gesellschaftlichen Gruppen an der Rechtsbildung zu beteiligen. Sie ist daher in sich selbst ein politischer Wert. Sie umfasst auch den Schutz der Minderheiten. Die Erziehung zu Demokratie und Toleranz ist der österreichischen Volkspartei ein ernstes Anliegen. So wie die Gewaltenttrennung jede die Freiheit des Menschen gefährdende Machtballung verhindert, garantiert die rechtsstaatliche Ordnung, dass der Mensch jederzeit und gegen jedermann sein Recht zu finden vermag. Zugleich ermöglicht die Demokratie durch den in ihr vorgesehenen Machtwechsel eine Weiterbildung der Gesellschaft ohne revolutionäre Erschütterungen.
Aufgabenteilung — eine Forderung der Vernunft#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zum Föderalismus.
Der Bund hat nur Aufgaben zu erfüllen, die im Bereich der Selbstverwaltung der Länder und Gemeinden, aber auch der gesellschaftlichen Interessenverbände und anderen kleinen Gemeinschaften nicht gelöst werden können. Er hat sich umgekehrt mit Tatkraft jener Aufgaben anzunehmen, die die Fähigkeiten dieser Gemeinschaften übersteigen (Subsidiaritätsprinzip). Die österreichische Volkspartei erblickt im bundesstaatlichen Aufbau der Republik, wie er in der Verfassung vorgesehen ist, eine wertvolle Befruchtung des politischen Lebens, eine bewährte Schule für das politische Handeln, eine Voraussetzung der Stärkung des Heimatbewußtseins und die Möglichkeit einer besseren Rücksichtnahme auf die verschiedensten Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern und Gemeinden. Dieser Aufbau des Staates fördert auch eine rationelle und sparsame Verwaltung.
Persönliches Eigentum — ein Vorzug unserer Gesellschaftsordnung#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zum Grundsatz des persönlichen Eigentums.
Wer die freie Persönlichkeit will, muß auch persönliches Eigentum wollen, das mit Rechten und Pflichten verbunden ist. Im Vorhandensein persönlichen Eigentums auch an Produktionsmitteln erblickt die österreichische Volkspartei einen Vorzug unserer Gesellschaftsordnung. Nur dann, wenn der Einzelmensch als Eigentümer der Produktionsmittel Träger der Wirtschaft ist, wird mit dem geringsten Einsatz an Mitteln der größte wirtschaftliche Erfolg erzielt. Die österreichische Volkspartei hält daher die auf dem Wettbewerb der wirtschaftlichen Kräfte fußende Marktwirtschaft für die unerlässliche Voraussetzung eines hohen Produktionsniveaus, das die entscheidende Grundlage eines hohen Lebensstandards der Bevölkerung ist. Allein auf der Basis des Eigentums kommt die Eigenständigkeit der Landwirtschaft, des Gewerbes und der Industrie zur Geltung. Ihr grundsätzliches Eintreten für das Privateigentum an Produktionsmitteln hindert jedoch die Volkspartei nicht, dort auch das öffentliche Eigentum an Produktionsmitteln anzuerkennen, wo dies auf Grund besonderer Umstände erforderlich ist. Ebenso bekennt sie sich zur Notwendigkeit ordnender Maßnahmen der öffentlichen Hand, namentlich auch des Staates, der für einen reibungslosen Wirtschaftsablauf die oberste Verantwortung trägt.
Partei für das ganze Volk#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zum Gedanken der sozialen Leistungsgemeinschaft.
Volkspartei heißt: Partei aus dem Volk und für das Volk. Durch ihren bündischen Aufbau ist die österreichische Volkspartei ein getreues Abbild der Gesamtgesellschaft. Sie umfaßt Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Konsumenten und Produzenten. Dadurch ist sie dazu verhalten, bereits in den eigenen Reihen für den Ausgleich der Gruppeninteressen im Sinne des Wohles aller zu wirken. Sie tritt daher auch im Staat für das friedliche Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Gruppen ein. Denn nur das harmonische Zusammenspiel aller kann die vollen Kräfte der Gesellschaft freisetzen und eine ständige Steigerung des Wohlstandes herbeiführen. Die österreichische Volkspartei bekennt sich in diesem Sinne zum Solidarismus und zur evolutionären Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, lehnt jedoch revolutionäre Veränderungen ab, die nur in Willkür und Chaos münden.
Gerechte Verteilung der Güter#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur christlichen Soziallehre.
Die Gesellschaft bildet für die österreichische Volkspartei ein Gefüge von Leistungsgruppen, das nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit geordnet werden kann. Darin ist auch das Recht dieser Gruppen eingeschlossen, sich zu organisieren und ihnen zum Nutzen gereichende Einrichtungen zu schaffen, um im Wege der Selbst- und Mitbestimmung das eigene Schicksal zu gestalten. Hingegen ist es die Aufgabe des Staates, die Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Leistungsgruppen im Sinne des Gemeinwohles zu zügeln. Allein im Rahmen einer solchen Ordnung können auch die Arbeitnehmer ihr Mitbestimmungsrecht ausüben. Auf Grund ihrer Funktion in der sozialen Leistungsgemeinschaft und kraft eines gesicherten Einflusses auf die Verteilung des Sozialproduktes sollen die Arbeiter und Angestellten am fortschreitenden Wirtschaftswachstum teilhaben. Dabei sind nicht nur die überkommenen Methoden der Lohn und Gehaltsbildung sowie der sozialen Sicherheit weiterhin anzuwenden, sondern auch Formen der Eigentumsbildung zu entwickeln, die eine breite Streuung des Volksvermögens sichern. Nur so kann der Kerngedanke christlicher Gesellschaftspolitik, die Unabhängigkeit möglichst vieler, verwirklicht werden. Allein die Idee der sozialen Partnerschaft kann ein klassenkämpferisches Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit endgültig beseitigen.
Wohlstand für alle#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur sozialen Verantwortung.
Sie bezieht namentlich jene Gruppen der Gesellschaft in ihre Obsorge ein, die am Produktionsprozeß noch nicht oder nicht mehr teilhaben können. Getreu ihrer solidarischen Verbundenheit mit allen Schichten der Bevölkerung, tritt die österreichische Volkspartei dafür ein, dass auch jene Schichten, denen keine Druckmittel gegenüber dem Staat zur Verfügung stehen, am jeweiligen Wirtschaftserfolg mitbeteiligt werden. Sie erachtet es ferner als eine ihrer wichtigsten Pflichten, für die Erhaltung des Geldwertes und damit für die Wertbeständigkeit der Ersparnisse einer wachsenden Zahl von Mitbürgern einzutreten, deren durch Arbeit und Verzicht erworbene Vermögenswerte nicht durch inflationistische Entwicklungen geschmälert werden dürfen. Angesichts der heute im zunehmenden Maße vor sich gehenden Vermögenbildung auch in den Händen breiter Schichten ist für die österreichische Volkspartei die Erhaltung der Kaufkraft der Währung eine soziale Verpflichtung ersten Ranges.
Gesunde Familien — gesundes Volk#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur Familie.
Die Familie ist für sie als Keimzelle der Gesellschaft und als ursprüngliche Erziehungsstätte der nächsten Generation unantastbar und unersetzlich. Die Familie formt den Staat von morgen. Nur wenn die Familien seelisch und materiell intakt sind, wird es auch die Gemeinschaft des ganzen Volkes sein. Deshalb ist die österreichische Volkspartei für den rechtlichen Schutz von Ehe und Familie, der auch in der Verfassung verankert werden soll. Die österreichische Volkspartei kämpft für den familiengerechten Wohnbau und tritt für die Unterstützung junger Ehepaare bei der Hausstandsgründung ein. Sie befürwortet einen weiteren Ausbau des Familienlastenausgleichs, durch den vielen Kindern die Mutter zurückgegeben würde. Die Familienpolitik der österreichischen Volkspartei schließt die Sorge für die berufstätigen Frauen und Mütter ein, die am Gedeihen der Volkswirtschaft wesentlich beteiligt sind.
Gleiche Bildungsmöglichkeiten im Kulturstaat Österreich#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur Idee der Bildungsgesellschaft.
Mehr und höhere Bildung ist in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die unerläßliche Voraussetzung für die Bewältigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben. Der Zugang zur Bildung muß allen Menschen offenstehen, damit sich unsere Gesellschaft zu einer echten Bildungsgesellschaft mit gleichen Startbedingungen und individuellen Erfolgschancen entwickeln kann. In einer sich immer rascher wandelnden Welt bedarf der Mensch auch einer ständigen Weiterbildung. Die österreichische Volkspartei tritt daher für den Ausbau und die Förderung der Erwachsenenbildung ein. Da Bildung nicht nur ein Mittel der Berufsvorbereitung, sondern auch der Lebenserfüllung ist, hat sie in Anbetracht der wachsenden Bedeutung der Freizeit mehr denn je die Aufgabe, einer sinnvollen Nutzung der Freizeit zu dienen. Die österreichische Volkspartei betrachtet daher eine aktive Kulturpolitik als eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Die Schöpfung der kulturellen Werte selbst steht für sie unter dem Gesetz der Freiheit. Geisteskultur, Leibeserziehung und Sport sollen von öffentlicher und privater Seite durch zweckentsprechende Einrichtungen und ausreichende Mittel gefördert werden.
Freiheit in Verantwortung#
Die österreichische Volkspartei bekennt sich zur Freiheit der Persönlichkeit.
Der einzelne ist Mensch mit Leib und Seele, Angehöriger seiner Familie, seines Volkes, seiner Religion, seines Berufsstandes sowie verschiedener kleiner menschlicher Gemeinschaften und diesen verpflichtet. Jede willkürliche Herauslösung des Menschen aus diesen Bindungen untergräbt die freie Persönlichkeit. Die Menschenrechte, insbesondere die Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung, das Recht auf das eigene Leben, auf Unverletzlichkeit der Person, zu Familie und Ehe, zur Erziehung der eigenen Kinder, zum Unterhaltserwerb, auf freies Eigentum, auf freie Berufswahl, auf Persönlichkeitsentfaltung sowie das Recht der freien Vereinigung und Mitbestimmung der Ordnung und Verwaltung des Gemeinwesens — alle diese Rechte werden um so kräftiger und wirkungsvoller ausgeübt werden, je stärker die österreichische Volkspartei imstande ist, der Vorstellung vom alleskönnenden und allestuenden Staat entgegenzutreten. Das Maß an Freiheit, das wir morgen besitzen werden, hängt von dem Maß an Verantwortung ab, das wir heute zu tragen bereit sind.
Die Partei der neuen Mitte#
Von diesen Grundsätzen geleitet, überwindet die österreichische Volkspartei Extreme und Fehlhaltungen, die im staatlichen und gesellschaftlichen Geschehen Österreichs vorherrschend waren. Sie steht in einer neuen Mitte, in der sich weltanschauliche, politische, soziale und wirtschaftliche Kräfte treffen. Die österreichische Volkspartei ist österreichisch, solidaristisch, christlich und demokratisch in jedem weltoffenen Sinn, der zum Gemeinsamen verbindet, anstatt in Gegnerschaft zu entzweien. Im Schnittbereich der zweigeteilten Welt ist Österreich dazu bestimmt, von seinem Standpunkt aus sich mit jenen zu verbinden, die Menschen in Europa und in der Welt zu neuen Begegnungen zusammenführen wollen, damit Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Frieden gesichert werden.
Quelle#
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