Gab es Atlantis wirklich? (Essay)#
Reinhold Bichler
Die Frage ist alt. Zur Zeit des Kaisers Augustus notierte der Geograph Strabon, dass Streit darüber besteht, ob die Erzählung vom Untergang der riesigen Insel Atlantis nur „heiße Luft“ (Plasma) sei oder sich auf ein wirkliches Ereignis beziehe.
In die Welt war diese Geschichte durch Platon gekommen. In zwei Dialog-Schriften (vermutlich aus den 50er Jahren des 4. Jahrhunderts v. Chr.), in der Eingangspartie des Timaios und im unvollendet gebliebenen Kritias (benannt jeweils nach den Hauptreferenten im philosophisch-didaktischen Dialog), entwickelte Platon die Vorstellung zweier unterschiedlicher idealer Staatsformen, die in einer sagenhaften Vorzeit – über 9000 Jahre vor seiner Zeit – existiert haben sollen. Dabei spielt zunächst Athen die Hauptrolle. Dort bestand eine Verfassung, die ganz ähnlich derjenigen war, die schon in der Politeia, Platons berühmtem Dialog über Gerechtigkeit und Staatsverfassung, im Gedankenexperiment entwickelt worden war.
Seine Tüchtigkeit bewies dieses vorzeitliche Athen mit einem Abwehrsieg über die Könige von Atlantis, die den Rest der Welt, den sie noch nicht beherrschten, unterwerfen wollten. Atlantis war, so die Darstellung Platons, die Hauptstadt eines riesigen Inselreichs und verkörperte einst ebenfalls ideale Verhältnisse unter einer gerechten, von zehn Königen kollegial geführten Regierung. Doch mit zunehmendem Handel und Reichtum nahmen Besitzgier und Expansionsgelüste überhand und verdarben den Charakter der Herrschenden. In der Folge erlitt Atlantis in einem kolossalen Feldzug gegen das vorzeitliche Athen ein Debakel. – Später dann hätte eine kosmische Katastrophe (wie sie nach Platons Überzeugung in regelmäßigen Zyklen auftreten) sowohl Athen als auch Atlantis innerhalb eines Tags und einer Nacht zerstört: Athen versank im schlammigen Boden, Atlantis im Meer.
Die mit „harten“ Methoden arbeitende Forschung kann zwar mutmaßliche Inspirationsquellen für Platon ausfindig machen (einschließlich schwerer Erdbeben und Flutkatastrophen zu Platons Zeit), betont aber die philosophisch lehrhaften Anliegen und die vielen politischen und literarischen Anspielungen in dieser Geschichte. Dessen ungeachtet wird seit Jahrhunderten ein „wirkliches“ Atlantis gesucht und an allen möglichen Orten „gefunden“: in Inselgruppen des Atlantischen Ozeans selbst, aber auch in Amerika, in nordischen Gefilden (Helgoland), im Mittelmeer (an der Mündung des Guadalquivir, vor den Küsten Zyperns, in Troja oder auf Santorin) wie im Schwarzen Meer, aber selbst in Salzwüsten des Maghreb, im Heiligen Land oder auf Madagaskar – überall lassen sich die Spuren von Atlantis finden, wenn man Platons Text nur lange genug „interpretiert“. Das urzeitliche Athen sucht leider niemand. Das war zu „brav“, um zu faszinieren. Atlantis dagegen stimulierte nicht nur Schatzsucher-Phantasien, sondern auch etliche abenteuerliche, oft nationalistische oder rassistische Theorien über die Abstammung „wertvoller“ Völker und Kulturen vom alten Atlantis: von den Goten Schwedens und den Etruskern bis zu den Ägyptern und den Mayas. Vor allem musste der sagenhafte Kontinent auch als Urheimat der Arier herhalten.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch:
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