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Heer, Friedrich#

* 10. 4. 1916, Wien

† 18. 9. 1983, Wien


Publizist, Historiker und Kulturkritiker


Heer, Friedrich
Friedrich Heer. Foto.
© Die Furche, Wien, für AEIOU

Friedrich Heer wurde am 10. April 1916 in Wien geboren.


Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er ab 1934 Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Wien und promovierte 1938 zum Doktor der Philosophie mit einer Arbeit zur Geistesgeschichte des Mittelalters.


Bereits als Student geriet Friedrich Heer als entschiedender Gegner des Nationalsozialismus in politischen Streit mit großdeutsch denkenden Historikern und österreichischen Naziionalsozialisten. Im März 1938 wurde er verhaftet und gründete nach seiner Freilassung eine kleine katholische Widerstandsgruppe, wo er sich um einen organisierten Zusammenschluß von Christen, Kommunisten und Sozialisten gegen die Nationalsozialisten bemühte. In den Folgejahren wurde er noch mehrmals inhaftiert, ehe er 1940 zum Militär eingezogen wurde.


Von 1946 bis 1961 war Friedrich Heer Redakteur der Wochenzeitschrift "Die Furche" und Mitherausgeber der Zeitschrift "Neues Forum"; ab 1961 war er Chefdramaturg am Wiener Burgtheater. Er publizierte zahlreiche Artikel und lehrte als a.o. Professor an der Universität Wien.

Auszeichnungen, Ehrungen (Auswahl)#

  • Wiener Preis für Geisteswissenschaften, 1950
  • Martin Buber-Franz Rosenzweig Medaille, 1968
  • Großer Österreichischer Staatspreis, 1972

Werke (Auswahl)#

  • Die Stunde des Christen, 1947
  • Gespräch der Feinde, 1949
  • Aufgang Europas, 2 Bände, 1949
  • Der 8. Tag, 1950 (Roman, unter Pseudonym Hermann Gohde)
  • Die Tragödie des Hl. Reiches, 1952
  • Europäische Geistesgeschichte, 1953
  • Land im Strom der Zeit, 1958
  • Österreich - ein Leben lang, 1962
  • Europa - Mutter der Revolutionen, 1964
  • Der Glaube des Adolf Hitler, 1968
  • Abschied von Höllen und Himmeln, 1970
  • Europa unser 1977
  • Der Kampf um die österreichische Identität, 1981

Literatur#

  • A. Gaisbauer, F. Heer, 1990
  • E. Adunka, F. Heer (1916-1983). Eine intellektuelle Biographie, 1995
  • W. F. Müller: Die Vision des Christlichen bei Friedrich Heer (Salzburger Theologische Studien 19), Innsbruck 2002


"Der bekannteste Kulturhistoriker Österreichs war ebenfalls Mediävist, Theologe und liberaler katholischer Publizist. Der Schwerpunkt seiner Auseinandersetzung mit der Eigenart der österreichischen Kultur fiel in die Mitte der fünfziger Jahre und noch einmal am Ende seiner Karriere. Es ist ungemein schwierig, die historische Argumentation dieses geborenen Querdenkers zu paraphrasieren. Sein geistesgeschichtliches Mammutwerk, 'Europa - Mutter der Revolutionen (Stuttgart: Kohlhammer 1964; 1028 Seiten)', zeigt seine Stärken und Schwächen: ein unerhört breites und tiefes Wissen über das 19. Jahrhundert wird sprunghaft in kurzen Abschnitten komprimiert. In ununterbrochener Folge werben kurze Zitate und Querverbindungen um die überforderte Aufmerksamkeit des Lesers ... In mancher Hinsicht darf Heer als der letzte bedeutende Essayist über die Eigenart Österreichs gelten, der im Sog Hofmannsthals, Bahrs und Wildgans' stand, und er war der einzige, der die Kluft zwischen dem älteren Österreichertumsdiskurs und den Identitätsdebatten der siebziger Jahre überbrückte." (William M. Johnston, Der Österreichische Mensch, Wien, 2009)

Hubert Feichtlbauer zum 100. Geburtstag Friedrich Heers#

Gespräch der Feinde
Friedrich Heer war ein intellektueller Gigant. Ein Mahner und Vordenker für Österreich und Europa nach Ende des großen Barbarenkrieges. Vielen Konservativen war er zu links, progressiven Intellektuellen verdächtig als verkappter Konservativer, vielen Kollegen aus der Wissenschaft in seinen sprachlichen Ausuferungen zu unseriös. Noch mehr, vor allem Junge, waren freilich fasziniert von der Bildkraft und Beispielhaftigkeit seiner Sprache. Das erste Buch, mit dem er 1949 große Aufmerksamkeit fand, war Das Gespräch der Feinde. In einer Diskussion mit Studenten fasste er später das Anliegen anspruchsvoll zusammen: Konkret genommen, ist die Nächstenliebe für den, der sie ganz ernst nimmt, bereits Feindesliebe. Ich habe immer gerade gegen den nächsten und liebsten Menschen etwas. Wir müssen uns die Erkenntnis erkämpfen, dass wir dringend den Feind brauchen, weil er oft unser zweites Ich verkörpert, Gegenpol, Spiegelbild ist. Der einzige Freund, der ganz ehrlich zu uns ist…Wer das „Gespräch der Feinde“ zu früh abbricht…, bleibt lebenslang ein Gefangener seiner eigenen unbewältigten Vergangenheit. Wir brauchen einen Feind, um für unsere Sache überzeugend kämpfen zu können: eine Wirtshaus-Banalität. Aber welche eine Begründung: weil uns der Feind oft an die Schattenseite des eigenen Ich erinnert! In der Politik hat man die Notwendigkeit des Dialogs sehr rasch kapiert. Klassenkampf im Büro statt auf der Straße, Große Koalition, Sozialpartnerschaft. Auch in den Kirchen traten freundschaftliche Gespräche und gemeinsames Beten an die Stelle von Ausgrenzung und Bannfluch. Das 2. Vatikanische Konzil und Kardinal König waren wichtige Geburtshelfer des neuen Denkens. Und ganz gewiss auch Friedrich Heer mit seiner kühnen Diagnose:
Irren ist menschlich. Irren ist göttlich. Irren kann schöpferisch sein.

Österreichs Identität

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Völker der Donaumonarchie immer heftiger ihren Nationalstaat forderten, drohte Österreich übrigzubleiben – ein Deutsches Reich gab es ja schon seit 1871. Ein Teil der National-Theoretiker war für eine Vereinigung, andere hielten an einem eigenen Staat Österreich fest. Friedrich Heer verfocht mit Leidenschaft die These, dass das Österreichische auch am deutschsprachigen Österreicher schwerer wog als die deutsche Sprache. Oft waren Österreicher „Zerrissene“ zwischen kaiserlich und päpstlich, evangelisch und römisch-katholisch. Heer beklagte die Unkenntnis historischer Details: Wien ist zumindest vom 12. Jahrhundert an – mit bedeutenden Unterbrechungen – bis 1914 ein Raum altösterreichischer Vielstimmigkeit, Mehrsprachigkeit, Multinationalität gewesen…Eine außerordentliche Rolle spielte in diesen Glaubenskämpfen das Ringen österreichischer Juden um ihre Identität: in ihrem Judentum, in ihrem Deutschtum, in ihrem Österreichertum, in ihrem Konservativismus, in ihrem Sozialismus, allem zuvor in ihrem klassischen jüdischen Liberalismus im 19. Jahrhundert. Sein Werk „Das Ringen um die österreichische Identität“ schließt Heer mit einem bezeichnenden Beispiel. Am Pariser Grab des österreichischen Dichters Josef Roth, gebürtiger Jude und späterer Christ, trauerten 1939 Monarchisten und Kommunisten, Ostjuden und katholische Farbstudenten. Man stritt über das Vorrecht auf letzte Riten. Auf einer schwarzgelben Kranzschleife stand „Otto“. Szenenwechsel: 1993 wurde in Wien Ruth von Mayenburg, genannt „die rote Gräfin“, begraben. Sie war die Frau des Kommunisten Ernst Fischer gewesen, 1934 Bürgerkriegsteilnehmerin, im Krieg im Emigrantenhotel Lux in Moskau, Zweitehe mit dem zuletzt erzkonservativen katholischen Publizisten Kurt Diemann in Wien. Der trieb das Häuflein Katholiken auf der einen und das Häuflein Lux-Kommunisten auf der anderen Grabseite des Wiener Friedhofs zum lauten Beten eines Vaterunsers an. Nie war und ist österreichische Identität eindimensional. Erziehung zu Europa Wie weit sind wir in der Geschichte schon? Friedrich Heer ist überzeugt: erst am Anfang! Ich glaube seit meiner Kindheit, dass alles Menschliche zusammenhängt. Alles Menschsein ist für mich einfach dies: Die Menschen bilden einen gemeinsamen Großkörper, mögen sie es wissen oder nicht, mögen sie es wollen oder nicht… Alle Menschen bilden einen einzigen Lebensprozess. Die Geschichte des Menschen beginnt eben erst. Das ist Friedrich Heers Menschenphilosophie. Österreich habe seine geschichtliche Aufgabe nie verraten. Zu den Beiträgen Österreichs zur Bildung Europas zählt er auch die Vermeidung einer letzten Zerklüftung des europäischen Menschen in eine östliche und westliche oder nördliche und südliche Hemisphäre. Und fast prophetisch sah er von Anbeginn voraus: Es ist leicht, Europäer „oben“ zu sein, es ist schwer, Europäer „unten“ zu sein, wo uralter Volkshass, Volksangst schwelgt. Gerade solche, die oben agieren, kennen ihr Herz kaum. In einer Krise entdecken sie plötzlich, wie das Herz nicht nur in den Massen, sondern in ihnen selbst wach wird. Über Nacht werden da (auch) sehr gebildete, sehr gepflegte gute Europäer zu Agenten des Hasses, zu Managern einer bösartigen Propaganda. Alle Erziehung von oben her, alles Berieseln von oben mit Ideologien, Europa-Ideen, Europa-Parolen, hat wenig guten Sinn. Erziehung zum Europäer muss in die Massen dringen. Friedrich Heer verlangt für ein solches Ziel nichts weniger als eine Umstellung der Schulen und eine Erfassung des ganzen Menschen in allen Lebensbereichen. Erziehung zur „Verantwortung des Lebens, des Lebens des Anderen, des Mitmenschen, und des eigenen Lebens im Angesichte des Todes“ hält Heer für ein „Leitmotiv österreichischer Bildung“. Da hat er in letzter Zeit, wenn er von Wolke 7 auf uns herüberblickte, wohl häufig verwundet und verwundert sein Haupt verhüllt.

Gottes erste Liebe

„Gottes erste Liebe“: Das war der originellste, der stärkste Buchtitel in Friedrich Heers Gesamtwerk und er meint: Es war kein Zufall, dass Gott zuerst das kleine Volk der Juden mit der Verbreitung seiner Botschaft betraut und den Bund mit einem Vertrag geschützt hat, der niemals aufgehoben worden ist. Mit der Erfahrung der Shoa in Gewissen und Herz gebrannt, klagte der Wiener Kulturphilosoph Friedrich Heer 1967: Millionen Menschen glauben existentiell nicht an das Heil aus dem Juden Jesus. Millionen Christenmenschen sind Angstneuerotiker, nicht nur in deutschen Landen…Dieses angstbesessene Christentum konnte sich selbst nicht verteidigen und konnte und wollte nicht verhindern, dass der Sündenbock geschlachtet, dass der Jude zwischen Kreuz und Hakenkreuz zermalmt wurde. Das war zwei Jahre nach dem großen Schwenk der katholischen Kirche in der Definition ihres Verhältnisses zum Judentum. Aber der Weg vom Verstehen und Achten der Rolle der Juden, den alle Päpste seither beschritten haben, bis zu einem fruchtbaren Dialog mit ihnen erweist sich – erwartungsgemäß – als sehr steinig und sehr lang. Als Kern der Tragödie hat Heer Roms kurzsichtige, falsche Verhandlungsstrategie entlarvt: Solange der Nationalsozialismus sich nicht offiziell kirchenfeindlich gibt, bekämpfen wir ihn nicht und handeln einen modus vivendi aus: im Wesentlichen Sicherung von Religionsunterricht und Geld. Dabei bleiben die meisten Menschenrechte auf der Strecke – für alle Nichtkatholiken. Aber für die Katholiken auch! Eine logische Lehre, bei deren konsequenter Beherzigung die Kirche in Diktaturen sowieso und, ja, auch in Demokratien bis heute Nachholbedarf hat.

Brennender Dornbusch

Sein katholischer Glaube war Friedrich Heer unaufgebbares Element seiner Identität. Symbol seines Glaubens war ihm der brennende, aber nicht verbrennende Dornbusch, aus dem heraus der Herr mit Mose sprach. Der Sozialwissenschaftler Leopold Rosenmayr erblickte dahinter den „auf Selbstreinigung bedachten Geist“ Heers, der unter „kirchlich vermittelten Schuldgefühlen“ gelitten habe. “Jeder Mensch ist ein brennender Dornbusch“, fand Heer, der auch bei seinem Reden von der “dreisonnigen Gottheit“ das Feuer der Sonne als göttliche Chiffre beschwor. Von seiner Kirche freilich verlangte er ein neues Selbstverständnis, eine Offenheit gegenüber der „Welt“ und ihren Sachbereichen, gegenüber Frauen, Geschlecht, Liebe, zu den anderen Weltreligionen und einem „atheistischen Humanismus“. Heer meinte damit, was wir heute lieber Agnostizismus nennen. Auf diese Weise machte er Glaubende und Skeptiker zu Geschwistern im Geist: Auch zum Glauben gehört das Zweifeln, und auch zu den Agnostikern gehört ein gelegentliches: „Aber lachen tät´ ich, wenn…“ Friedrich Heer war ein sinnenfreudiger Mensch. Dann aber wieder gestand er: „Ich bin ein Kind der Angst“. Er fühlte sich missverstanden von seiner Kirche, von CV und ÖVP und den meisten seiner Kollegen in der Wissenschaft. Zwei von ihnen haben noch nach seinem Tod ihre Heer-Schau korrigiert, fanden seine Selbstdarstellung als Anti-Nazi-Widerstandskämpfer übertrieben und einige Beispiele dazu als glatt erfunden. Flugs versammelten sich die Anhänger Heers um ihren Helden und fragten, ob damit die nach 1945 geradlinig verfochtene ungeheure Leistung des Politik-, Welt- und Kirchenreformers denn ausgelöscht worden wäre? Angst hin, Angst her: Heers Freund Fritz Wotruba fand: „Er war das mutigste Espenlaub, das ich je zittern sah.“

Der Weltdialog

Morgen also, am Sonntag, 10. März 2016, wäre Friedrich Heer 100 Jahre alt geworden. Um die 50 Bücher, darunter auch einige Romane, weit über 100 Essays aus „Wort und Wahrheit“, „Neues Forum“ und vor allem der „ Furche“, die Heer ab 1946 fünfzehn Jahre redaktionell leitete, füllen seinen Nachlass. Zuletzt fand er noch Aufnahme im Burgtheater als Dramaturg – der Direktor sagte: „als brüderlicher Störenfried“. Bis zuletzt ist er ein Besessener des Schreibens geblieben. Ein durch Behämmern der Schreibmaschintasten eingewachsener Fingernagel und der Spitzname „Rapidograph“ bezeugen seine Leidenschaft, seinen Geist auf Papier explodieren zu lassen. Es gibt sehr zu denken, dass wir heute in Ghettos leben, das heißt in geschlossenen Cliquen, die geschlossenen Gesellschaften darstellen. Jede geschlossene Gesellschaft ist ein Feind einer inneren Fortschrittlichkeit, einer inneren guten Unruhe…Ich glaube, dass die Denker Chinas, Indiens, Japans, Europas alle, alle miteinander sprechen. Sie führen ein ständiges Geistgespräch. Sie bilden einen Energieprozess, in dem sich lange nach ihrem physischen Ableben ihr geistiges Werk verbreitet. Das gilt auch von Friedrich Heer, der dies im Jahr seines Todes, 1983, schrieb. In vielem war Friedrich Heer ambivalent. Er suchte den Konflikt und gleichzeitig Anerkennung. Noch in seinem Spitalszimmer haben einander Repräsentanten vieler Denkrichtungen die Türklinke in die Hand gegeben. Persönlichen Freunden rief der Leukämiepatient zu: „Umarme mich, Krebs ist nicht ansteckend“! Er selbst war es schon. Das Bewusstsein der Familienzusammengehörigkeit von Christen und Juden, das Zusammenwachsen der Völker und der großen Religionen, der Dialog als Überlebensstrategie der Menschheit sind unverzichtbar geworden. Die wiederholt geäußerte Hoffnung Friedrich Heers auch: Die Sache des Menschen ist noch nicht verloren.

Aus: Ö1 – Gedanken zum Tag April 2016

Hörproben #

Hörprobe Österreichische Mediathek


Aster und der Alte.
Autorenlesung; Ausschnitt. Wien, 9.6.1975.

Vorlesen

Die Zukunft des Buches, die Zukunft des Menschen.
Vortrag. Ausschnitt: Was ist Zukunft? Wien, 3.11.1980.

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Weiterführendes#

Quellen#


Redaktion: P. Diem, I. Schinnerl


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