Nibelungenlied#
Um 1200 im bayerisch-österreichischen Donauraum entstanden, hervorgegangen aus einer langen mündlichen und vielschichtigen Sagentradition in (mehr oder weniger) einheitlicher Konzeption, in 35 Handschriften bzw. -fragmenten überliefert (jüngster Fund in der Stiftsbibliothek Melk 1998).
Gilt als das berühmteste mittelhochdeutsche Heldenepos und erzählt in 39 Aventiuren und rund 2400 Nibelungenstrophen im 1. Teil von Siegfrieds Werbung um die Wormser Prinzessin Kriemhild und von ihrem Streit mit Brünhild, der Frau ihres Bruders Gunther, der zu Siegfrieds Ermordung durch Hagen führt.
Der 2. Teil berichtet von Etzels Werbung um die Witwe und den Zug der Burgunden (Nibelungen) die Donau abwärts über Passau, Eferding, Enns, Pöchlarn, Traismauer, Tulln und Wien bis nach Ungarn an den Hof Etzels. Dort finden alle den Tod; Kriemhild rächt sich an Hagen und stirbt selbst durch Hildebrand. Während die Handlung des 2. Teils die Geschichte des Burgundenstamms zur Zeit der Völkerwanderung reflektiert, bleibt der Siegfriedstoff historisch vage und trägt mythologische und märchenhafte Züge. Wann, warum und wie die beiden Sagenstränge zuerst verbunden wurden, bleibt dunkel. Auch ein Urtext ist nicht oder kaum rekonstruierbar, die 3 ältesten Handschriften (A, B, C) bieten 3 verschieden akzentuierte Fassungen; diese lebendige Textgestalt ist genauso gattungstypisch für die Heldenepen wie die Anonymität des Dichters bzw. Sängers. Die frühe und breite Wirkung des Nibelungenlieds, die mit der eng an die Fassung C gebundenen "Klage" (eine Art Resümee des Geschehens) einsetzte, ist auch dadurch bedingt, dass der Heldenstoff in einer zeitgemäßen höfischen Form erscheint. Der Heroismus des Nibelungenlieds ist als gattungsspezifisches Element aufzufassen und sperrt sich somit gegen eine nationalistische Vereinnahmung.
Wie andere Heldenepen wurde das Nibelungenlied zu seiner Zeit gesungen. Als Spezialist für alte Musik beschäftigt sich der Sänger und Jurist Eberhard Kummer seit 1982 mit dem Nibelungenlied. Sein Stil entspricht neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Literatur- und Musikwissenschaft. Die Erarbeitung geschah in engem Kontakt mit Wissenschaftlern der Universitäten Salzburg und Wien, Aufführungen bei zahlreichen Konzerten und Kongressen in Europa und USA folgten. Eberhard Kummer verwendet den so genannten Hildebrandston, eine mittelalterliche Epenmelodie und begleitet sich, entsprechend der historischen Aufführungspraxis, mit einem Saiteninstrument (Harfe bzw. Drehleier). Zuletzt 2006 sang und spielte er an fünf Abenden in Wien das gesamte Werk, das vom Phonogramm-Archiv der Österreichischen Wissenschaften aufgezeichnet und bei The Chaucer Studio (USA)als CD-Edition aufgelegt wurde.
- Nibelungenlied (Musik-Lexikon)
- 800 Jahre Nibelungenlied in Österreich und Süddeutschland (2000) (Essay)
- Die Flucht des Königs Richard I Löwenherz von der Adria bis Wien-Erdberg (NID-Buch)
Ausgaben#
- H. de Boor, 1988
- H. Brackert, 1970-71 (mit Übersetzung)
Literatur#
- Verfasserlexikon
- J. Heinzle, Das Nibelungenlied, 1987
Über das Nibelungenlied (Essay)#
von Hans Magenschab
Vom Entstehen der Völker und deren Glauben, von Sagen und Legenden, Götterdiensten und Heiligenverehrung: kurzum von der Verschmelzung zwischen Heiden- und Christentum im Donauraum: Erstaunlich, dass das Nibelungenlied ein ewiges Thema ist - zwischen der niederösterreichischen Donau, der Ruhr und Hollywood.
Sind tausend Jahre in Europa eine beachtliche Zivilisationsstrecke - oder ist das winzig-wenig im Vergleich zu den Australo-pithecinen-Wegmarkierungen Schwarzafrikas? Jedenfalls sind alles nur Pünktchen auf einem Diagramm früher Zeugnisse; immerhin ist ja auch die Venus von Willendorf nur eine winzige 11 Zentimeter große Statuette, wenngleich 25.000 Jahre alt.
Warum die Vorzeiten "grau" sind, bleibt wohl den Brüdern Grimm, Gustav Schwab mit seinen "Sagen des klassischen Altertums" und Richard Wagners lärmender Nibelungenmusik zur Erklärung überlassen. Dass aber Spuren des Wissens und Glaubens als große Menschheitserinnerung ins Bewusstsein der Abendländer hiningerutscht sind, steht wohl außer Zweifel. Glaubensbotschaften hatten zuerst einmal den Himmel im Visier; dort sind Olymp und Walhalla von Urgöttern errichtet worden, dort beleben auch die Überwesen die Szene - Titanen und Walküren, Drachen, Monster, Sphinxe, Gorgonen, Doppeladler. Vis-á-vis stehen die hilflos ausgelieferten Menschlein zwischen Pest und Cholera - bedroht durch Wasserfluten, Feuer speiende Berge, unendlich tiefe Moore und brennende Inseln. Viel
Stoff für Märchen und mehr; für tückische speiende Ungeheuer in tiefen Höhlen, Schlangen als Verführer auf fruchtbaren Bäumen - und die wilde Jagd über dem Firmament...
Problematische Überlieferung#
Nun trennen sich für frühere Historiker nicht - wie für uns heutige - die Zeitalter scharf in Antike, Mittelalter oder Moderne; so wie es auch keine heidnisch-christliche Scharftrennung gibt. Die Taufe öffnete zwar den Weg zu neuen Glaubensinhalten - aber die Kirche ließ auch heidnisches Denken und Fühlen weiterbestehen, ja miteinander verschmelzen. Und so stellt sich die Historia mundi keineswegs als rationale Datenautobahn dar, sondern als wirre Summe von Phantasien, Märchen, Legenden, Sagen. Wobei sich besonders im Donauraum die antiken Mythologien der Kelten, Griechen und Römer mit der Geister- und Götterwelt der Germanen, Slawen und Magyaren vermengt haben dürften. Jedenfalls müssen die Massentaufen des ersten nachchristlichen Jahrtausends für die Neu-Völker einen gewaltigen Zivilisationssprung bedeutet haben.
• Da waren die "Männer aus Baja", nämlich die Bajuvaren, die als Erste zwischen Donau und Rhein, Böhmerwald und Bodensee sesshaft wurden. Sie nahmen gegen Ende der Völkerwanderung im 7. Jahrhundert das Christentum an.
• Ein Teil der Slawen bildete nordöstlich der Donau ein Großmährisches Reich und engagierte die griechischen Mönche Cyrill und Method zum Zweck der (griechischen) Christianisierung. Man zerstritt sich aber, indem Fürst Priwina aus Neutra/Nitra über die Donau flüchtete und sich - erstaunlich - just in Traismauer Mitte des 9. Jahrhunderts samt Gefolgschaft taufen ließ.
• Der Premyslidenfürst Wenzel ging etwas später als großer christlicher Tauf-König in die Nationalgeschichte der Tschechen ein. Seine Krone wurde zum nationalen Idol des tschechischen Volkes (wie auch Wenzels Feiertag gleich nach dem Sturz der Kommunisten 1989/90 zum Nationalfeiertag ausgerufen wurde).
• Ungarn schließlich wurde ab 973 systematisch christianisiert; 995 heiratete der Magyarenhäuptling Stephan die fromme bayrische Prinzessin Gisela. Im Jahr 1000 erhielt das christianisierte Land sodann vom Papst für Stephan die Königswürde.
• Nur die Österreicher hatten um das Jahr 1000 keinen Nationalheiligen, kein kultisches Objekt, keinen heiligen Ort, keinen Mythos von Bedeutung. Nur eine fränkische Familie, die Babenberger, ließ roden, Felder und Weingärten pflanzen - kurzum: im Auftrag des römisch-deutschen Kaisers eine „Ostmark" aufbauen. Unspektakulär. Denn die Babenberger waren fleißig, fromm und kinderreich - wenngleich wie viele Sippen der Zeit untereinander verfeindet. Aber verknüpft man Babenbergerschicksale mit dem Nibelungen-Drehbuch, kommt man zu erstaunlichen Parallelen.
Die Donau abwärts#
Da ist Leopold III., der spätere Klosterneuburger Heilige; er ist wahrscheinlich einem Jagdunfall zum Opfer gefallen - möglicherweise inszeniert von seinem eigenen Sohn. Markgraf Ernst starb durch einen Streitaxthieb. Leopold V. wiederum erlitt im Turnier einen offenen Beinbruch und hackte sich selbst das wundbrandinfizierte Bein ab. So rau die Sitten waren - und das Nibelungenlied ist hier ganz Kriminal-Dokumentation -, verdienten die meisten Österreicher der Babenbergerzeit enorm am Handel des Nachschubs für die Kreuzritterheere.
Wenn es stimmt, dann zogen 1194 zum Beispiel vom Sammelplatz Regensburg aus an die 600.000 Kreuzfahrer unter der Führung von Friedrich I. Barbarossa links und rechts der Donau südostwärts, Privilegierte landeten am 11. Mai per Boot mit Barbarossa in Wien, wo ein riesiges Lager außerhalb der Stadtmauern aufgestellt worden war. Nun liest sich das Nibelungenlied wie eine Schilderung des Barbarossazuges; und es ist nicht unmöglich, dass der uns unbekannte Autor mit dabei war. Er verquickte nur eigenes Erlebnis mit lebhafter Phantasie über seine imaginären Helden; nichts Neues bei Schriftstellern. Vor und hinter dem eigentlichen Kreuzzugsheer zogen freilich die menschlichen Aasgeier mit. Räubereien, Überfälle, Brandschatzung waren üblich.
UND DAS NIBELUNGENLIED? Es ist wohl ziemlich exakt um das Jahr 1200 entstanden. Wie es verbreitet wurde, ist unbekannt. Und obwohl wir 35 Handschriften besitzen, wäre natürlich eine einzige Dokumentation der Vertonung wünschenswert. Alle modernen Historiker geben jedenfalls zu, dass das Epos nicht aus einem Guss ist. Es ist eine Aneinanderreihung von Einzelheiten, Bruchstücken, Details. Könnten mehrere Autoren am Werk gewesen sein - etwa „Experten" für die Beschreibung des langen Weges vom Rhein zum Donauknie?
Wupper oder Traisen ... #
Jedenfalls rückt in den letzten Jahren das Nibelungenlied neuerlich in das Interesse der Historikerzunft - freilich mehr in das der Amateure als in jenes der Profis. Seit es nämlich Computer und Internet gibt, sind zahlreiche Forscherteams drauf und dran, die Schauplätze, Personen und historischen Zusammenhänge zu verlinken. Dass dabei moderne Politik und Lokalinteressen - bis hin zum Fremdenverkehr, zur Theaterliteratur und zum Film - eine Rolle spielen, ist naheliegend.
Was natürlich nicht neu ist: Alles Nibelungische war immer schon etwas Politisches. Und mit dem Heldenlied verknüpft. Zum Nationalepos hochstilisiert, entflammten die Taten Siegfrieds, Günthers, Hagens etc. die „Deutschen" im Kampf gegen den „Osten" ebenso wie gegen Napoleons Armeen in den Befreiungskriegen. Später ging es im Krieg Preußens gegen die Österreicher 1866 in Königgrätz um das bessere Deutsch-Sein; und schließlich starben 1870-71 viele für das geeinte Bismarck'sche Kaiserreich - ganz so, wie jener Gott es befahl, der Eisen wachsen ließ und keine Knechte wollte ...
Jedenfalls verpassten sich auch die schlagenden Burschenschaften seit dem 19. Jahrhundert zur höheren Ehre Wotans ihre Schmisse; und wichtig waren, selbst für katholische Farbstudenten, immer wieder Nibelungenbezüge. Heute gibt es zwischen Nordsee und Adria eine Unzahl von Verbindungen namens Nibelungia, und jede Menge Danuben, Rhenaner, Frankonen, Babenberger und Kürnberger laufen mit bunten Bändern umher; Verbindungen heißen Siegfriedia Linz, Nibelungia Melk, Arminia Klosterneuburg, Kahlenberg Wien, ...
Von vielen benutzt#
Adolf Hitler, der glühende Nibelungen-Apologet, ließ denn auch auf besondere Weise die Nibelungerei wirksam werden. Es gab N-Brücken, N-Straßen, N-Plätze,... und es gibt sie noch heute. Denkmäler aus Eisen und Marmor umstehen besonders Linz, den geplanten Alterssitz des Führers. Dabei wäre es doch eine Parodie gewesen, so sagte er in kleiner Runde, „wenn die Erben Attilas die schönste Stadt am Nibelungenstrom besitzen würden".
Was die Nibelungen betraf, so spaltete sich erst peu á peu nach 1945 die deutsche Öffentlichkeit: Die alten Nazis - und was davon noch zurückgeblieben war - nützten die „Nationaldichtung" schamlos zur erneuerbaren Germanisierung, verquickten sie mit Rassen-Gesetzlichkeiten - und verpackten Richard Wagners Opernschwulst in ein Wirrwarr von künstlerischen Botschaften.
Der andere Teil der deutschen Nachkriegsgeneration verstieg sich - und zwar in Zeiten des sogenannten Regietheaters - zum Klassenkampf auf den diversen Bühnen. Da wurden - Bayreuth eingeschlossen - aus Göttern und Helden, Schatzsuchern und Drachentötern faschistische Diktatoren, eiskalte Banker, schäbige Krisengewinnler und kriminelle Umwelttäter.
Der seltsam-dümmste Versuch bestand schließlich aber darin, den neutralen Bericht über das Geschehen des Nibelungen-Feldzuges von der Donau an die Ruhr zu verlegen. In den 80er-Jahren brachte etwa mit viel Wirbel der Econ-Verlag eine „Dokumentation" von Walter Böckmann heraus - „Der Nibelungen Tod in Soest - neue Erkenntnisse zur historischen Wahrheit". Andere begleitende „Ergebnisse" führten Autoren auf dem „Zug der Nibelungen durchs Bergische Land". Roswitha Wisniewski interessierte sich für Dietrich von Bern und den „Niflungenuntergang". Und der vieldekorierte Michael Köhlmeier aus Vorarlberg erzählte erst kürzlich frei das Epos nach, alemannisch umgemodelt.
Eine beherrschende Figur in der Sagenonkel-Argumentation war schließlich der „Privatgelehrte" Heinz Ritter-Schaumburg. Er zwang eine Generation von Wissenschaftlern zur Nach-Forschung. Wovon ging er aus? Nun, er verlegte alles Geschehen an den Rhein, genau an die Duna - worunter er aber nicht die Donau meinte, sondern einen Nebenfluss der Wupper... dort, so mutmaßte er, gab es nämlich einen Attila, der aber wieder nichts mit dem Hunnenkönig zu tun gehabt habe - vielmehr einen germanischen Kosenamen besaß: Attala, Väterchen ... naja.
Gelebt und geherrscht aber hätten demnach die Nibelungen - Ritter-Schaumburg weiß es - südwestlich von Köln, im Raum der Vor-Eifel; und ihre engere Heimat ist auch nicht Worms, sondern ein „Wormez bi dem Rine". Wenigstens darf sich Siegfrieds Heimatstadt auch heute so nennen, wie dies immer der Fall war - Xanten.
Fremdenverkehrswirksam#
Dieses selbsternannte Nibelungenland zieht derzeit immerhin rund 800.000 Touristen im Jahr an. In Xanten gibt es alljährlich einen Nibelungen-Triathlon, eine Sache für harte Burschen ganz nach dem Vorbild des Recken (wird 2011 am 11. September stattfinden). In Königswinter gibt es ganzjährig eine „Drachenhöhle" und einer „Nibelungenhalle" mit der größten Bildersammlung über die Helden. Die gab's dort noch nicht, als Siegfried das Ungeheuer erschlug.
Und dann finden im Jahre 2011 wieder die „Nibelungenfestspiele Worms" an der Seitenfront der Kathedrale statt. Seit zehn Jahren quält sich Regisseur Dieter Wedel dort mit dem sperrigen Stoff ab. Heuer darf er jedoch spielen, was er will - und er spielt „Jud Süß". Das hat zwar nichts mit den Nibelungen zu tun, aber vielleicht mit jenen Zusehern, die Erinnerungsarbeit benötigen; oder Götterdämmerungen lieben.
West trifft Ost #
Nun hat sich Amerika aus dem Abendland - und das schon seit geraumer Zeit - den Stoff der großen Märchen, Epen und Wunderberichte geholt. Hollywoods Vorgabe: Für spätpubertierende Jugendliche einen Mix aus Brutalität, History, Fantasy und Future herzustellen. „Conan der Barbar" könnte auch Siegfried heißen; der 2004 hergestellte „Fluch des Drachen" bezog sich direkt auf die Nibelungen. Da gibt es andererseits „Horror, Evil and Ruin" - oder „Clash of the Titans". Ein Höhepunkt des Unsinns sind Mittelalter-Stoffe rund um die Artus-Legende, das Schwert Excalibur und den Zauberer Merlin. Der Mord an Templern, Albigensern, Gralsrittern wiederum hat historisch-wahre Kerngeschichten und literarische Vorlagen - entspringt aber doch vor allem dem angelsächsischen Hass auf die bösartige römische Kirche.
Ein cineastischer Sidestep war schließlich die Geisterbahn-Story von Steven Spielberg, der in seinem „Jurassic Park" Ur-Vergangenheit wiederbelebt und Dinosaurier wie Drachen in die Gegenwart schlüpfen hat lassen. Statt Schwerter gibt es zur Abwehr modernstes technisches Equipment, was 915 Millionen Dollar einspielte - samt jeder Menge Oscars.
Bis zum Herbst 2010 bestand übrigens auch im niederösterreichischen Traismauer ein „Jurassic Island" mit 40 Dinos, einem Labor und einem Museum. Nur wurde bei uns der Betrieb infolge Überschuldung zur Einstellung gezwungen ...
Dass allerdings im Donau- und Traisental Dinosaurier existiert haben sollen, ist unbewiesen. Das Töten von Drachen ist daher eine Grusellegende, die man getrost Hollywood überlassen kann. Anders steht es um sonstige Spuren der Nibelungenreise durch die einmalige Kulturlandschaft der Donau. Schon in den 80er-Jahren stellten Archäologen die These auf, ein Teil des Römerkastells in Traismauer - lateinisch Trigisamum - sei jene Burg gewesen, in der die Königin Kriemhild aus dem Nibelungenlied vier Tage lang Unterkunft genommen haben soll, bevor sie nach Osten - gen früheres Feindesland also - weiterziehen wollte. Hier wäre demnach der Point of no Return gewesen, von dem aus der Weg schnurstracks in die Götterdämmerung hineinführte. Jedenfalls trafen - gemäß dem Text des Liedes - in Traismauer die Europäer des Westens auf jene des Ostens. Da heißt es im Nibelungenlied in Strophe 1342:
Vor Etzeln dem künige ein Ingesinde reit Vround vil riche, hövesch unt gemeit Wol vier und zweinzec fürsten. (Vor König Etzel ritten die Gefolgsleute, froh gesinnt und mächtig, höfisch und stolz, an die 24 Fürsten, auserwählt und hehr.)
Wer waren sie wohl? Zum „ingesinde" gehörten wohl Bayern, Alemannen, Franken, auch Nachfahren ehemaliger Römer und Kelten. Und auf wen trafen sie hier? Zu den „24 Fürsten" sind Polen, Griechen, Petschenegen, Russen, Walachen zu zählen.
Man braucht nicht übermäßig viel Phantasie, aus dem aufs Erste wirr wirkenden Amalgam einem möglichen Faden der Erkenntnis zu folgen: In Traismauer dürfte das noch freundschaftliche Treffen stattgefunden haben, das Rüdiger von Bechelaren/Pöchlarn organisiert haben könnte. West und Ost an einem großen Tisch - das wäre eine Parabel Europas gewesen ...
Aber die Sache ging daneben. Die Nibelungen zogen weiter ostwärts, bis es im heute ungarischen Esztergom-Gran schließlich zum Endkampf kam. Die Donau wurde zum blutroten Spieltisch ... zum Fluss ohne Wiederkehr.
Aus der niederösterreichischen Kulturzeitschrift "morgen" Nr. 1/2011
Wie in dem ausgezeichneten Essay dargelegt, ist Traismauer einer der wichtigsten Schlüsselräume des Nibelungen-Textes. Daher dürfte der Münsteraner Germanistik - Ordinarius Joachim Splett recht haben, wenn er in seinen "Rüdigerstudien" darauf hinweist, dass Markgraf Rüdiger sein historisches Vorbild im "Ruedegerus marchio" hat, der unter dem Datum 3. November 1204 im Nekrolog des Chorherrnstiftes St. Andrä an der Traisen, heute ein Stadtteil von Herzogenburg, eingetragen ist.
Konrad von Fussesbrunnen, der Pfarrer von Feuersbrunn, würde da als Dichter gut dazu passen, da damals nur die Geistlichen imstande waren, eine derartig umfangreiche Dichtung schriftlich niederzulegen. Die Ritter konnten bestenfalls lesen. So heisst es etwa von Hartmann von Aue : "Ein ritter so geleret waz, dass er an den buochen las".
Erfreulich, dass das Nibelungenlied, das für die Verbreitung der deutschen Sprache wie auch Luthers Bibelübersetzung viel geleistet hat, wieder interessant wird. Man sollte die Forschung aber nicht nur deutschen Wissenschaftlern überlassen, die österreichischen Germanisten - nicht nur die Historiker - sollten endlich die deutschen Forschungsansätze aufgreifen und geschichtspolitische Berührungsängste überwinden....; mit einer retrospektiven Projektion aus heutiger EU-Sicht sollte man behutsam vorgehen, im Text prallen nämlich germanische Recken auf die hunnischen Angreifer aus dem Osten.
--Glaubauf Karl, Dienstag, 1. März 2011, 07:26
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