Was sind Sammelklagen? (Essay)#
Walter H. Rechberger
Die Sammelklage österreichischer Prägung hat nur sehr wenig mit der bekannten US-amerikanischen class action gemeinsam. Beide Institute dienen zwar dazu, die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen einer Mehrzahl von Klägern zu ermöglichen, wenn eine individuelle Prozessführung wegen der im Verhältnis zum Prozesskostenrisiko geringen Anspruchshöhe wenig sinnvoll erscheint. Der wesentliche Unterschied liegt aber darin, dass aufgrund des Repräsentationsprinzips die einzelnen Mitglieder der class im Prozess nicht selbst aktiv teilnehmen, ja nicht einmal genannt werden müssen, sondern durch einen deren Interessen wahrenden Repräsentanten vertreten werden. Dies erlaubt die Rechtslage in Österreich nicht.
Ausgangspunkt für die Diskussion der letzten Jahre um die Zulässigkeit der „Sammelklage österreichischer Art“ war der „Zinsenstreit“ mit heimischen Banken. Dabei ging es um die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rückforderung zuviel gezahlter Zinsen aufgrund unzulässiger Zinsanpassungsklauseln durch zahlreiche (in einem Verfahren waren es 684) Kreditnehmer gegenüber einem Kreditinstitut.
Aber auch andere Beispiele zeigen, dass Massenverfahren die Justiz vor besondere Aufgaben stellen: Zu nennen ist hier z. B. das Seilbahnunglück von Kaprun im Jahr 2000 oder – was wiederum den Ausgangspunkt der Initiative für eine gesetzliche Regelung für eine „Gruppenklage“ darstellte – die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen im Zusammenhang mit dem WEB-Skandal durch über 3.000 Kläger vor dem Landesgericht Salzburg.
Die Sammelklage österreichischer Prägung basiert auf einem vom Verein fürKonsumenteninformation entwickelten Konzept: Ein Verband wie die Wirtschaftskammer Österreich, die Bundesarbeitskammer, der Österreichische Landarbeiterkammertag, die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Österreichs, der Österreichische Gewerkschaftsbund, der Verein für Konsumenteninformation oder der Österreichische Seniorenrat lässt sich einen oder mehrere Ansprüche von Geschädigten gegen denselben Beklagten im Wege der Inkassozession abtreten und macht diese dann – unter Einschaltung eines Prozessfinanzierungsunternehmens – gemeinsam in einer Klage gegen den Beklagten geltend.
In der Diskussion über die Zulässigkeit einer solchen Sammelklage hat der Verfasser schon frühzeitig die Auffassung vertreten, dass es im Wesentlichen bloß auf die Voraussetzungen für eine objektive Klagenhäufung ankomme, und nicht so sehr auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Zusammenhang zwischen den einzelnen Ansprüchen, wie ihn das Gesetz für eine Streitgenossenschaft verlangt. Mit der großzügigen Zulassung der objektiven Klagenhäufung wird nämlich eine Entlastung der Gerichte durch Vermeidung unnötiger Prozesse und die Förderung des Gleichklangs der Entscheidungen über einzelne Teilansprüche erreicht. Auch der Oberste Gerichtshof, der sich jüngst positiv zur Frage der Zulässigkeit der Sammelklage äußerte, hält eine gemeinsame Geltendmachung von mehreren Ansprüchen verschiedener Anspruchsteller im Wege einer Inkassozession durch einen Kläger für zulässig, und zwar auch dann, wenn keine Identität des rechtserzeugenden Sachverhalts gegeben ist. Nach dem OGH muss es aber bei allen Ansprüchen um im Wesentlichen gleiche Fragen tatsächlicher oder rechtlicherNatur gehen.
Auch das Höchstgericht betont die prozessökonomischen Vorteile, die durch die Zulassung der Sammelklage erreicht werden, weil sich der Verfahrensaufwand sowohl für die Kläger als auch für die Gerichte deutlich verringert, wenn diese Fragen nur einmal, aber für alle Ansprüche bindend geklärt zu werden brauchen, sodass eine Vielzahl von Einzelverfahren vermieden werden kann.
In der Zwischenzeit gibt es auch einen Beschluss des Justizausschusses, „gesetzliche Möglichkeiten zur ökonomischen und sachgerechten Bewältigung von Massenklagen zu prüfen“. In dessen Umsetzung diskutiert eine Arbeitsgruppe des Justizministeriums über eigene gesetzliche Regeln für Massenverfahren. Ein Ministerialentwurf liegt zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Bandes aber noch nicht vor.
In Deutschland trat am 1. November 2005 das Gesetz zur Einführung von Kapitalanleger- Musterverfahren in Kraft; dieses neue Verfahren kombiniert Elemente der group litigation des englischen Rechts sowie des deutschen verwaltungsgerichtlichen Musterverfahrens und des Rechtsentscheids aus dem Mietrecht. Die Besonderheit des auf fünf Jahre befristeten Pilotprojekts liegt darin, dass zwischen im Einzelfall zu entscheidenden individuellen Haftungsfragen und kollektiven Haftungsfragen, für die das Musterverfahren gedacht ist, unterschieden wird. Auch in Deutschland ist die Reformdiskussion noch nicht abgeschlossen.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch:
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