Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast
Dies ist Version . Es handelt sich nicht um die aktuelle Version und kann folglich auch nicht geändert werden.
[Zurück zur aktuellen Version]    [Diese Version wiederherstellen]
vom 05.03.2012, aktuelle Version,

Opferthese

Opferthese ist ein Terminus aus der Zeitgeschichte und die gängige Bezeichnung für ein nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitetes Argumentationsmuster in Österreich bezüglich der Zeit vor dem „Anschluss“ (Verbot der NSDAP, NS-Putschversuch 1934, NS-Anschläge in Österreich, „Tausend-Mark-Sperre“ etc.) bzw. der Rolle Österreichs in der Zeit des Nationalsozialismus. Laut diesem Argumentationsmuster war der Staat Österreich das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik. Als Synonym für Opferthese wird (in Anlehnung an Begriffe wie Habsburgermythos, Kaisermythos oder Gründungsmythos) auch Opfermythos gebraucht. Die Opferthese wird – da sie im kollektiven Gedächtnis das Verdrängen der österreichischen Mittäterschaft an den Untaten der Nationalsozialisten bewirkte – auch als „Lebenslüge“ der Zweiten Republik bezeichnet.

Ursprung

Als Legitimation für die Annahme des Opferstatus Österreichs wurde – im Einklang mit der Inhaftierung österreichischer Regierungsangehöriger unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen – auf den unfreiwilligen Untergang Österreichs als Völkerrechtssubjekt verwiesen. Als Unterstützung dieser These diente eine Textpassage in der „Moskauer Deklaration“ vom 1. November 1943, in der die Außenminister von Großbritannien, der USA und der Sowjetunion die Ansicht vertreten, dass „Österreich das erste freie Land [sei], das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte [und] von deutscher Herrschaft befreit werden soll“ und dass der „Anschluss“ von 1938 als „null und nichtig“[1] gelte. In der Folge galt der Staat Österreich staatsrechtlich als Opfer der NS-Politik.

Dazu gesellte sich nach Kriegsende der Opferstatus von Einzelpersonen. Dabei wurde in der gesetzlichen Behandlung dieser zwischen politischen Opfern und Kriegsopfern unterschieden.

Auswirkungen und Langzeitfolgen

Einen frühen Niederschlag fand die Opferthese in Formulierungen in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945. Denn mittels dieser sagte sich Österreich von Hitlerdeutschland los und das Dokument gilt als ein Gründungsdokument der Zweiten Republik. Darin heißt es u.a., „dass der Anschluss des Jahres 1938 [...] durch militärische Bedrohung von außen und dem hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet [... und] durch militärische und kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist“[2].

Auswirkungen zeigte die Opferthese schon in der Nachkriegszeit insofern, als die Entnazifizierung in den ersten Nachkriegsjahren (Verbotsgesetz 1947) zwar zunächst schärfer als in Deutschland erfolgte, im Zuge des Kalten Krieges aber praktisch eingestellt wurde und somit rückblickend betrachtet nicht im genügenden Ausmaß erfolgte. Auch wurde die Restitution geraubter Vermögenswerte zunehmend verzögert.

Auch war die Verdrängung der Mittäterschaft zahlreicher Österreicher an den Gräueltaten während der NS-Zeit dafür verantwortlich, dass die Wiedergutmachung an den politischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung (Juden, Roma u.a.) nur äußerst schleppend vor sich ging. Anders hingegen wurden die „Kriegsopfer“ behandelt. Da „die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers […] das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat“,[2] war es leicht, Angehörige der Wehrmacht als Kriegsopfer zu titulieren. Zu diesen wurden auch Angehörige der Waffen-SS gerechnet, die ab 1. Oktober 1943 beigetreten waren, denn ab diesem Datum galt eine Zugehörigkeit als erzwungen. Dabei ging es weitgehend um die innenpolitische Aufteilung des „Dritten Lagers“ durch die beiden Parteien SPÖ und ÖVP.

Die Opferthese wurde weiter in den Verhandlungen über den Österreichischen Staatsvertrag von den österreichischen Regierungsmitgliedern (welche alle als KZ-Häftlinge, Emigranten etc. wirkliche NS-Verfolgte waren) genutzt, um den Passus der staatlichen Mitschuld wegzuverhandeln und um weitreichende Forderungen der UdSSR abzuwehren.

Durch das konsequente Beibehalten der Opferthese über mehrere Jahrzehnte wurde in Österreich die Zeit des Nationalsozialismus bis in die frühen 1990er Jahre kaum aufgearbeitet und die Tätereigenschaft vieler Österreicher kaum wahrgenommen. Erst ab 1986 im Zuge der Waldheim-Affäre und des „Bedenkjahres“ (auch: „Gedenkjahres“) 1988 begann eine differenzierte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. So war Bundeskanzler Franz Vranitzky im Jahre 1991 der erste offizielle Vertreter Österreichs, der die von Österreichern begangenen Verbrechen eingestand und dafür um Entschuldigung bat. Entsprechend kontrovers wurde deshalb auch die Wehrmachtsausstellung diskutiert, da sie bis dahin tabuisierte Inhalte offen zur Schau brachte.

Sehr spät, nämlich erst im Jahre 1998, setzte Österreich, unter massivem internationalem Druck, insbesondere durch Klagen aus den USA, die Historikerkommission der Republik Österreich ein, um den Vermögensentzug zwischen 1938 und 1945 sowie Rückstellungen und Entschädigungen nach 1945 zu erforschen und darüber zu berichten. Als Ergebnis dieser Forschungen und Bemühungen erfolgten ab diesem Zeitpunkt eine Vielzahl von Restitutionen.

Zusammenfassend ist der staatsrechtliche Vorgang 1938 im Hinblick auf die Republik Österreich als janusartiger Akt zu verstehen und das nur in Verbindung mit den verschiedensten Interessen während des „Kalten Krieges“. Während der Staat Republik Österreich aus einem Blickwinkel Opfer der NS-Politik wurde, waren aus einem anderen Blickwinkel Staatsbürger der Republik Österreich willfährige Täter bei der Durchsetzung der NS-Politik.

Als bislang letzte Manifestation der Opferthese werden (hier mit umgekehrten Vorzeichen) von einigen Journalisten die Reaktionen auf die so genannten „EU-Sanktionen“ angesehen:[3] Als sich die damals 14 anderen EU-Mitgliedstaaten gegen eine Beteiligung der rechtspopulistischen FPÖ an der neu zu bildenden Regierung ausgesprochen hatten und – nach trotzdem erfolgter Koalition der ÖVP mit der FPÖ – auch diplomatische Sanktionen gegen diese Regierung eingeleitet worden waren, wurden von politischer Seite und in den Medien des Landes diese als bevormundende „Maßnahmen gegen Österreich“, also gegen das gesamte Land interpretiert.

Einzelnachweise

  1. Zit. n. Ehtreiber 2007, Stichwort „Opferthese“.
  2. 1 2 Akustisches Dokument auf http://www.staatsvertrag.at/Kurzfuehrung.htm, abgerufen am 30. November 2008.
  3. Vgl. etwa: Nina Horaczek: „Echte Patrioten“ gegen „Österreich-Vernaderer“. In: Martin Strauß, Karl-Heinz Ströhle (Hrsg.): Sanktionen. 10 Jahre danach. Die Maßnahmen der Länder der Europäischen Union gegen die österreichische Regierung im Jahr 2000. Studienverlag, Innsbruck u. a. 2010, ISBN 978-3-7065-4823-6.

Literatur

  • Gerhard Botz: Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung. In: Wolfgang Kos, Georg Rigele (Hrsg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Sonderzahl, Wien 1996, ISBN 3-85449-092-5, S. 51–85.
  • Ewald Ehtreiber: Stichworte: „Opferthese“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Wehrmachtsausstellung“ und „Wiedergutmachung“. In: Oswald Panagl, Peter Gerlich (Hrsg.): Wörterbuch der politischen Sprache in Österreich. öbv, Wien 2007, ISBN 978-3-209-05952-9.
  • Günther Sandner: Vergangenheitspolitik im Kabinett. Die Debatten um die österreichischen Kriegsopfer am Beginn der Zweiten Republik. In: Oswald Panagl, Ruth Wodak (Hrsg.): Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, ISBN 3-8260-2838-4, S. 131–147.