Michael Hauskeller: Was ist Kunst?#
Michael Hauskeller: Was ist Kunst? / Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto, C.H.Beck, 2008 / Rezension von Krusche Martin
Da war während einer Plauderstunde eine Dialogsequenz, in der mein Gegenüber brummig sagte: „Was Kunst ist? Wer will denn das wissen? Ich hab zuhause ein Buch, da stehen lauter verschiedene Erklärungen drin.“ Ich hab dieses Buch auch. Ein schlankes Bändchen, dessen Lektüre mir sehr leicht gefallen ist. Kleine Skizzen, geschickt angelegt, quasi eine Reise durch Europas Kulturgeschichte. Aber kurios, daß keine „außerwestliche“ Position vorkommt, wenn man etwa einrechnet, wie gut zum Beispiel chinesische Leute mit Europas Kunstgeschichte vertraut sind, natürlich auch der des 20. Jahrhunderts.
Egal, das Buch richtet sich wohl primär an westliche Leute und könne heute vor allem jenem Bildungsbürgertum empfohlen werden, das es mit seiner Bildung inzwischen nicht mehr so genau nimmt, aber gerne markige Ansagen zum Thema ausschüttet. Eine Art geistiger Heimatkunde. (Kleiner Scherz!)
Das Büchlein wurde sicher nicht geschrieben, um eine knackige Antwort zu liefern, damit sich die Unruhigen beruhigen können, auf daß diese lästige Frage endlich erledigt sei: Was ist Kunst? So was wäre auch gar nicht möglich. Ich denke, es ist genau diese offene Frage, an der sich auffallend viele Menschen abarbeiten, um Argumente gegen die Wertschätzung von Kunstwerken und Kunstschaffenden zu finden. Es ist diese Offenheit des Themas, das dabei Geringschätzung erfährt.
Der Untertitel birgt einen wichtigen Hinweis darauf, womit wir es hier zu tun haben: Positionen der Ästhetik. Zum Wesen einer Position gehört ganz sicher, daß man sie wechseln kann. (Es würde doch niemand sagen, daß einzementierte Betonpfeiler eine Position haben. Die haben einen Standort.)
Hauskeller bietet in seiner Publikation ein Serie von Text-Miniaturen an, die einer bestimmten Person und Ära gewidmet wurden. Es beginnt bei Platon. Soweit mir bekannt ist, haben wir keine älteren schriftlichen Dokumente eines Kunstdiskurses. Ideen, Urbilder, sinnliche Erfahrbares, was eben Platon für wesentlich hielt, um über Fragen nach Herstellung und Abbildung Kategorien zu benennen. (Er war definitiv kein Freund dessen, was wir heute für Kunst halten.)
Dieser Reigen endet bei Positionen von Lyotard und Arthur C. Danto. Mir hätte gefallen, wenn es noch bis zu Boris Groys und „Über das Neue“ (Versuch einer Kulturökonomie) gereicht hätte, einem Essay, der einige Jahre vor Hauskellers Buch erschienen ist. Aber damit kann eh jede Buchhandlung dienen.
Danto hilft einem ganz gut auf die Sprünge, was das Durchbrechen der „gegenständlichen Beschränkung“ in Kunstwerken angeht. Ich hab es erst vor ungefähr zwei Wochen wieder erlebt, daß mir jemand ein nettes Aquarell zeigt, dessen Motiv keinerlei Rätsel aufgibt, und betont: „Das ist für mich Kunst. Das muß man können.“
Seit meinen Kindertagen begleiten mich Ressentiments gegenüber dem, was salopp als „Moderne Kunst“ bezeichnet wird und dann zum Beispiel jenseits von Gegenständlichkeit stattfindet. Abstraktion? Aber das Erkennbare. (Und Sie glauben, Sie wären tatsächlich befähigt, die Symbole in einem Gemälde von Leonardo zu dechiffrieren? Das möchte ich sehen!)
Woher kommt nun die Idee, daß es so was wie Genies geben könne, die uns beeindrucken müssen? Warum gelten jene, deren Arbeit uns unbegreiflich bleibt, oft als Stümper, die angefeindet werden? Was ist denn mit unserem Bildungssystem los, daß es den Menschen nicht wenigstens das klarmachen kann? Nämlich: Es ist ein Unterschied zwischen Kunst und Kunstfertigkeit.
Die Debatte darüber läuft seit einer Ewigkeit und drei Tagen, ist seit weit über zweitausend Jahren schriftlich überliefert. Das eröffnet ja ein völlig unfaßbarer Zeitraum. Gerade erst, als unsere Leute in der agrarischen Welt lebten, wurden die meisten Leute kaum älter als 40 bis 50 Jahre. Und bloß sehr wenige unter ihnen waren von Alltagsmühen ausreichend freigestellt, daß sie sich Fragen der Kunst widmen konnten. Was sind also dem gegenüber 2500 Jahre Kunstdiskurs?
Dabei sind wir Glückskinder der Menschheitsgeschichte mit Lebensbedingungen, die heute noch nicht weltweit allen Mitmenschen zur Verfügung stehen. Was kann man in der zeit und langen Lebensspanne alles tun? Es steht einem natürlich frei, sich überhaupt nicht für Kunst zu interessieren. Aber was ist los, daß Leute ihr Desinteresse am Thema Kunst damit dokumentieren, daß sie Kunstwerke und Kunstschaffende anfeinden? Man muß es doch nicht gleich mit Hegel halten und sich über „Wunder der Idealität“ den Kopf zerbrechen.
Ich hab selber genug Vorbehalte, wo mir jemand mit so Flausen kommt, „rein und unverfälscht“ würde „die Wahrheit“ nur in der Kunst zutage treten. Um „Wahrheit“ lasse ich gerne Theologie und Philosophie rittern. Im Zugang zur Kunst ist das für mich heute keine vorrangige Frage und Wahrheit keine wichtige Kategorie. (Mit Wahrhaftigkeit sieht das ganz anders aus.)
Wenn davor Immanuel Kant über die Möglichkeit von Geschmacksurteilen nachgedacht hat, ist mir das recht, denn unser Denken fällt nicht aus dem Blauen und Ideengeschichte hilft uns, zu kapieren, wie wir heute ticken und warum das so sein könnte. Hauskeller notiert: „Seit Aristoteles galt die Kunst stets als ein regelgeleitetes Tun.“ Gekauft!
Ebenso gilt heute, daß ich die Regeln der Kunst auch ignorieren kann und mir niemand zu nehmen vermag, was ich mir an Genuß ausschließlich über sinnliche Erfahrungen holen will: Gefällt mir oder auch nicht. Sagt mir was oder auch nicht.
Es ist bloß ausgesprochen deppert, wenn ich solche Kategorien wahllos vermische und etwa mit Geschmacksurteilen gegen Regeln der Kunst anrenne. So kann man sich schlagartig zu Trottel machen, was viele Menschen an so einem Verhalten keinesfalls hindert. Simpel ausgedrückt: Wer beim Bäcker laut wird, weil er dort kein Kilo Faschiertes kriegen kann, hat einen an der Waffel.
Wie sang His Bobness Dylan in „The Times They Are A-Changin'“? Da heißt es: „Come mothers and fathers throughout the land / And don't criticize what you can't understand / Your sons and your daughters are beyond your command / Your old road is rapidly aging“.
Kritisiere nicht, was du nicht verstehst!
Verstehen, das heißt ja nicht, daß man sich den ganzen Jahrtausend-Diskurs reinpfeifen muß. Es könnte schon reichen, daß man sich einmal einige Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto kurz ansieht, um einen Eindruck zu erlangen, wie vielfältig und manchmal Widersprüchlich die Auffassungen von Kunst schon waren.
Das spricht doch nicht gegen, sondern sehr für die Kunst; daß sie einen so tiefen Raum für spirituelle und kulturelle Bedürfnisse aufmacht, wo derart unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen Platz haben, anregenden Dinge erleben oder gar zu tun.
Ist das nicht ein bezauberndes Terrain menschlicher Freiheit, wo wir ansonsten von so vielen Einschränkungen umgeben sind?
Freilich kann man Duchamps Urinal oder Flaschentrockner als ärgerliche Provokation empfinden. Das macht Emotionen und Nachdenklichkeit. Prima! Und man kann bei Benedetto Croce etwas Interessantes nachlesen. Er betonte die zwei Arten von Erkenntnis, die logische und die intuitive. So was nützt einem doch auch bei anderen Themen, kann sich sogar in Fragen der Alltagsbewältigung als Vorteil zeigen. Gelegentlich betont das Intuitive etwas anderes als das Logische und man muß sich entscheiden, Verantwortung übernehmen. Seit wann wäre das ein Problem?
Freilich sind damit Hierarchiefragen offen gelassen, was manchen Menschen ärgerlich erscheinen wird. Ein Bonmot besagt, Intelligenz sei die Fähigkeit, über zwei einander widersprechenden Ansichten nicht den Verstand zu verlieren. Manche schaffen das kaum.
Walter Benjamin kann einen schon ins Grübeln stürzen, wo er über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ nachdenkt. Aber wir leben heute schon mitten in der Vierten Industriellen Revolution. Es ist doch nicht die Kunst, von der hier Probleme ausgehen!
Rund hundert Seiten anregende und kurzweilige Lektüre, um zu diesem komplexen Thema ein paar Orientierungspunkte zu erhalten, das kann man sogar erklärten Feinden der Kunst empfehlen, damit sie etwas genauer wissen, wogegen sie sein möchten.