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Karl Zellhofer und Martin Zellhofer: Verschwundenes Weinviertel#

Bild 'Zellhofer'

Karl Zellhofer und Martin Zellhofer: Verschwundenes Weinviertel. Über Greißler und Wirtshäuser, Kinos und Schulen, Bahnhöfe und Ziegelwerke, die es nicht mehr gibt. Edition Winkler-Hermaden Schleinbach 2016. 132 S., ill. € 19,90

Es war einmal eine kleine, selbstständige Gemeinde am Übergang des Schmidatals in das Tullnerfeld. In diesem Dorf gab es eine Volksschule, zwei Gasthäuser, zwei Lebensmittelgeschäfte, eine Mühle, einen Schuster, eine Tischlerei, ein Milchhaus und eine Station der Franz-Josefs-Bahn. Damals wie heute hat(te) Hippersdorf 200 Einwohner. "Damals" ist noch nicht so lange her, das war in den 1960er Jahren - und doch ist alles ganz anders. Die Änderung hat sich vor den Augen aufmerksamer Beobachter vollzogen. Als solche fungieren im vorliegenden Band Vater und Sohn. Karl Zellhofer, pensionierter Schulrat und langjähriger Lehrer im Weinviertel und Mag. Martin Zellhofer, der Geschichte und Publizistik studiert hat und nun wieder dort lebt. Für ihr Gemeinschaftswerk sind sie von der tschechischen Grenze bis zur Donau und von der March bis zum Manhartsberg durch die Region gereist. Sie haben eindringliche Fotos angefertigt, Bewohner interviewt, historische Quellen studiert und informative Texte verfasst.

Die vielen nicht mehr genutzten Bauernhöfe, Tankstellen, Bahnhöfe, Ziegelwerke, Feuerwehrhäuser, Schulen und Kinos, die leer stehenden Lokale der Greißler, Wirte und Handwerker dokumentieren die Veränderung des Lebens im Viertel unter dem Manhartsberg. "Nostalgie", wie bei ähnlichen Bildbänden mit alten Ansichtskarten, ist hier selten zutreffend. Für die leeren, eloxalgerahmten Auslagen der dörflichen Kaufhäuser oder durch Umfahrungsstraßen um ihre Existenz gebrachten Tankstellen wäre vielleicht "Shabby" passender. Vor einem halben Jahrhundert waren sie der Inbegriff des Modernen. Doch gibt es auch ältere Objekte, wie eine Fassbinderei in Haugsdorf, ein Backhaus samt Gemischtwarenhandlung in Unterolberndorf, Stadel und Bauernhäuser. Sie dürften zumindest "in Schönheit sterben".

Die Autoren haben ihre (Be-)Funde in neun Kapitel gruppiert. Jedes beinhaltet neben - meist ganzseitigen - Fotos und erläuternden Texten Aussagen von "Zeitzeugen". Der erste ist Horst Schramm, der den Familienbetrieb übernommen und die traditionelle Warenhandlung zu einem der ersten Selbstbedienungsläden in Schleinbach und Umgebung umgebaut hat. Seit zwei Jahren ist er geschlossen. Statt des gut gemeinten Mottos "Fahr nicht fort – kauf im Ort!" heißt es jetzt im Weinviertel "Auf Wiedersehen im Einkaufszentrum". Das Dorfwirtshaus war, wie Schule und Kirche, aus einem kleinen Ort nicht wegzudenken. Jenes in Unterhautzenthal sperrte 1989 zu. Es lebte vor allem von den Pilgern, denn die Wallfahrt zur „Lieben Frau im Tale" soll seit dem 14. Jahrhundert großen Zustrom gehabt haben. Bis in die 1980er Jahre wurden am Haupttag, dem 15. August, 1000 Paar Würstel verkaut, außerdem Schweinsbraten, Gulasch und Rindfleisch. Der Ertrag eines solchen Tages deckte die Spesen eines ganzen Jahres. „Serviert wurde ausschließlich Hausmannskost“ sind die Überlegungen über "das Verschwinden des klassischen Dorfwirtshauses" übertitelt.

Im Weinviertel gab es einst mehr als 50 Lichtspielhäuser. 1970 waren es gut zwei Dutzend, jetzt bestehen so viele im ganzen, größten Bundesland Österreichs. Die Relikte sind vorhanden, sogar der Projektor und eine Anschlagtafel - "Musikaufführungsentgelt, treuhändig im Auftrag der A.K.M. eingehoben für jeden Besucher 5 Groschen"- in Mailberg. In Groß-Kadolz besteht der Saal des Tonkinos mit 330 Sitzplätzen, der auch in den besten Zeiten nur zu einem Viertel besetzt war. Die Besitzerin Hermine Holzer, die im Gebäude lebt, weiß viel über die Vergangenheit zu erzählen, als "Heimat- und Sissi-Filme aber auch Hollywood-Schinken" auf dem Programm standen. Sie ist, wie die meisten Interviewten eine rüstige Neunzigerin. Der gleichen Generation gehört Maria Schneider an. Die Frau Direktor unterrichtete bis 1965 in der einklassigen Schule 50 verschieden alte Kinder gleichzeitig, manche sind ihr bis heute für ihre verständnisvolle Art dankbar. "Nie mehr Schule – keine Schule mehr. Das Ende eines Stücks Dorfkultur" nennen die Autoren diesen Essay.

Der folgende, "Ziegelwagen und Schlossergwandl", erinnert an das Weinviertel als "Land der 250 Ziegelöfen". Ziegelfabriken bildeten in dem spärlich industrialisierten Gebiet die Ausnahme. Der Ziegelofenarbeiter Rudolf Wimmer erinnert sich an die Blütezeit des Betriebes in Wetzleinsdorf. Gearbeitet wurde in Schichten zu zwölf Stunden im Akkord. Die Werkswohnungen waren bescheiden. Substandard war damals Standard, das galt auch für die Eisenbahner, wie die Bahnwärterstochter Leopoldine Treipl weiß. Sie war Interviewpartnerin für das Kapitel "Hier wohnt niemand mehr - Wohnen im Weinviertel". Mit dem früheren Bahnhofsvorstand von Wetzleinsdorf, Rudolf Gruber, sprachen die Autoren über die Verkehrsverbindungen. "Auf dem Abstellgleis. Alte Verkehrswege in der Sackgasse", dieser Titel ist nicht übertrieben. Zu Zeiten der Monarchie führten vier Eisenbahnstrecken - Nordbahn, Ostbahn, Nordwestbahn und Franz-Josefs-Bahn - durch das Weinviertel. Dazu kam um 1900 ein dichtes Netz an Nebenbahnen. Die meisten Stationen verfallen, die Schienen wurden abgebaut und die Trasen kaum mehr zu erkennen: "Die Natur erobert sich ihr Terrain zurück".

Besonders wehmütig stimmen die Bilder des Abschnitts "Als es noch Mägde und Knechte gab …und man sich abends beim Milchhaus traf". Einstürzende Stadel, Keller und Tretten, wie man im Weinviertel die Laubengänge nannte, in deren Schutz die Bauern trockenen Fußes ihre Wohn- und Wirtschaftsgebäuden gelangten. Zumindest das Interview mit Josef und Maria Waltner in Neudegg ist nicht pessimistisch. Sie zählen zu den neun Vollerwerbsbauern in dem Dorf am Wagram und betreiben Wein- und Ackerbau. Seit 1844 bewirtschaftet Familie Waltner den Hof, vieles hat sich seither geändert. Die schwere Arbeit wurde erleichtert, die Viehzucht aufgegeben. Und wo es keine Kühe gibt, braucht man keine Milchhäuser mehr. Was auch nicht mehr gebraucht wird, sind die Zollämter. Robert Böck war u. a. in Kleinhaugsdorf stationiert, einem der drei Straßen-Grenzübergänge zur früheren Tschechoslowakei. In seinen 42 Dienstjahre kam es zur "Wende" des Jahres 1989, die einen enormen Aufschwung des grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehrs brachte. Die Verschiebung der Schengen-Außengrenze 2007 fiel nicht mehr in seine aktive Zeit. "Offene Grenzen, geschlossene Ämter. Eingespart, zentralisiert, modernisiert" heißt dieser Abschnitt, dessen Fotos auch nicht mehr benötigte Feuerwehrdepots und Gemeindeämter zeigen.

"Verschwundenes Weinviertel" ist ein Buch, das traurig macht. Der klassische Märchenschluss "Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute" trifft hier offensichtlich nicht zu. Dennoch betonen die Autoren, dass sie kein ausschließlich negatives Bild zeichnen wollten und verweisen auf Sanierungen und Umnutzungen. "Zudem dürfen wir nicht vergessen: Der Wandel bringt auch Neues hervor, viele Orte im Weinviertel wachsen. Und auch das Alte ist nicht ganz verschwunden. Noch gibt es Dörfer mit einem Greißler…" Die Betonung liegt auf "noch". Dem elegisch gestimmten Betrachter bleibt zu hoffen, dass der Landflucht als Trendumkehr eine "Stadtflucht" folgt und hektische Großstadtbewohner "auf dem Lande" Ruhe und Erholung finden. Anzeichen dafür sind erkennbar.