Klaus Lohrmann: Die Babenberger und ihre Nachbarn#
Klaus Lohrmann: Die Babenberger und ihre Nachbarn. Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2019. 367 S., € 52,-
Das viel zitierte Wir-Gefühl bildet für Klaus Lohrmann den Einstieg in sein jüngstes Werk. Als Universitätsprofessor für mittelalterliche Geschichte beschäftigt er sich seit langem mit der Entstehung von Herrschaften, ihren Trägern und Konflikten. In einleitenden Überlegungen schreibt der Autor zum Thema "Der Nachbar - der Fremde - der Feind - der Freund" im Hinblick auf die 270-jährige Herrschaft der Babenberger: "Immer wieder treffen wir auf die 'Unsrigen', die lateinisch als nostrati bezeichnet werden und sich von den anderen unterscheiden, die zumeist ein kriegerisches Gegenüber sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass es die 'Unsrigen' überwiegend mit 'fremden' Nachbarn zu tun hatten und mit diesen Begegnungen und Reibungen zum Alltag gehörten."
Im vorliegenden, überaus beeindruckenden Werk geht es um die Nachbarschaft von Gemeinwesen, die regnum, provincia, marchia oder res publica genannt wurden. In der fränkischen Gesellschaft spielte die Organisation der Grundherrschaft eine wesentliche Rolle. Hier wurde alles Notwendige produziert und verteilt, aber auch Herrschaft ausgeübt, was eng mit dem Adelsbegriff verbunden war. Im Hintergrund stand die Überzeugung, dass Christus seine Apostel beauftragte, die Botschaft von der Erlösung unter allen Menschen zu verbreiten. Auch der Kaiser hatte diese Aufgabe. Nach mittelalterlicher Auffassung ging es um die Erhaltung der durch Gottes Willen vorgegebenen Weltordnung.
Die Babenberger waren 976-1246 Teil des ehemals großfränkischen Kultur- und Herrschaftsverbandes. Aus diesem konnten sich noch neue Einheiten herausbilden, aber es entstanden keine neuen Völker mehr, sondern regna. Die slawischen und ungarischen Nachbarn befanden sich gleichzeitig in der letzten Phase einer gesellschaftlichen Formation, die zur Vorherrschaft lateinisch-fränkischer oder byzantinisch-griechischer Lebensordnungen führte, die letztlich in regna mündeten. Dieser Prozess verlief nicht geradlinig. Mit bewundernswerter Präzision und Ausführlichkeit zeichnet der Autor die verschiedenen Entwicklungslinien in 30 Kapiteln nach.
Er fragt: "Wer schafft die Traditionen, aus denen das Bewusstsein einer eigenen, kaum verwechselbaren Tradition hervorgeht?" und stellt fest: "Träger des Wissens waren die adeligen Grundherren. Sie organisierten die Produktion, die dafür notwendige Arbeit samt der strukturnotwendigen handwerklichen Tätigkeit, stellten vermutlich sogar die Verbindungen zu den regionalen und übergeordneten Märkten her und fungierten als Träger der Sicherheitsmaßnahmen, die vom Markgrafen, einem Adeligen mit besonderen auf 'staatlichen' Traditionen beruhenden Rechten organisiert wurden. Der Markgraf und der Klerus verkörperten und trugen diese Traditionen." Der Adel konstituierte die Gemeinschaft, und nahm an ihren Versammlungen und Gerichtstagen teil. Traditionen entstanden seit dem 12. Jahrhundert durch die Zusammenarbeit der Markgrafen mit den Äbten der Klöster. Sie bildet den "roten Faden" der österreichischen Geschichte des Hochmittelalters. Dem Grundherrn nachgeordnete Gruppen hatten besondere Aufgaben, wie Meier, Prokuratoren, Ökonomiker, Speer- und Schwertträger. Sie waren über die Herrschaftsverhältnisse gut informiert. "Ihr Horizont endete nicht an den Wassern der Bäche, die ihre Grundherrschaft von der nachbarlichen schieden."
Bei den Boemi spielten Krieger und Oberschicht die entscheidende Rolle für die Herausbildung des Wir-Bewusstseins. Hier ist eine grundherrschaftliche Organisation adeliger Lebensformen seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts nachzuweisen. Wie in Böhmen stand in Ungarn eine Führungsgruppe in direkter Abhängigkeit zum König. Ihre Funktionsträger waren vor allem Gespane (Grafen). Es wäre verfehlt, das Verhältnis des Reiches zu Böhmen und Ungarn als eines von Partnern auf gleicher Stufe zu verstehen, betont Klaus Lohrmann. " Es galt auch damals, bis in die Zeit Markgraf Adalberts (+ 1055), die christliche Ökumene unter einer universalen, von Gott legitimierten Herrschaft zu sehen. Alle partnerschaftlichen Ansätze im Umgang mit neuen Völkern wurden durch diese universale Ausrichtung der Zielvorstellungen begrenzt." Als der letzte männliche Babenberger, Herzog Friedrich der Streitbare (1211-1246) in der Schlacht an der Leitha gegen die Ungarn fiel, umfasste sein Herrschaftsverband Österreich und die Steiermark sowie Gebiete in Krain. Alle Nachbarn (außer Kärnten) wollten die neuen Herrscher werden, sogar der Kaiser erhob Ansprüche. Das vorliegende, neue Standardwerk erforscht die lang andauernden, wechselvollen Beziehungen der Babenberger zu ihren Nachbarn und stellt sie wissenschaftlich dar.