Karl Zellhofer: Verschwundenes Marchfeld#
Karl Zellhofer: Verschwundenes Marchfeld. Mit Gedanken von Gottfried Laf Wurm. Edition Winkler-Hermaden Schleinbach 2019. 96 S., ill., € 16,90
In alten Sagen und Märchen wurden die Guten belohnt, und die Bösen erhielten ihre gerechte Strafe. Oft hat auch das Wünschen geholfen, und schließlich ging alles gut aus. Die Zeiten haben sich geändert. In der Marchfeldsage aus dem 20. Jahrhundert gibt es für das "verschwundene Schlösschen" kein Happy End. "Eines Morgens kamen ein großer Bagger und Lastautos … nichts blieb von ihm in der leeren Wiese zurück. " Glück hatte hingegen das Bäckerhaus Visavis. Ein "narrischer Maler" erweckte es zu neuem Leben. Autobiographische Parallelen zum Autor, dem bekannten Marchfelder Künstler Gottfried Laf Wurm, drängen sich auf. 1946 geboren, besuchte er die Hochschule für Angewandte Kunst in Wien und eröffnete 1975 sein "Atelier Marchland" in Lassee.
Etwa gleichzeitig ließ sich Schulrat Karl Zellhofer im Weinviertel nieder, wo er an verschiedenen Schulen unterrichtete. Gemeinsam mit seinem Sohn Martin Zellhofer publizierte er im Vorjahr über Verschwundene Eisenbahnen im Weinviertel. 2016 erschien Verschwundenes Weinviertel . Nun widmet er einem Teil des Viertels unter dem Wienerwald ein eigenes Bilder-Buch, dem Marchfeld. Es gehört zwar geografisch zum Weinviertel, unterscheidet sich aber doch wesentlich. "Das Marchfeld ist eine weite Ebene, die sich über die Wiener Bezirke Floridsdorf und Donaustadt sowie über 34 niederösterreichische Gemeinden erstreckt und im Süden von der Donau, im Osten von der March sowie im Westen und Norden von den Hügeln des Weinviertels begrenzt wird. Man nennt diese Ebene auch die Kornkammer Österreichs" , lernt man aus dem Vorwort. Seit der Frühbronzezeit ist die Region von der Landwirtschaft geprägt. Es gibt kaum Industrie, obwohl 1837 die erste Dampfeisenbahn Österreichs von Floridsdorf nach Deutsch-Wagram fuhr.
Die Eisenbahn ist eines der acht Themen, die das Buch behandelt. Fast überall sind die Gleise entfernt, das Schotterbett noch teilweise vorhanden, wie die Trasse bei Kopfstetten. Dort soll sie bis Engelhartstetten als Radweg genutzt werden. 2002 endete der Personen- und Güterverkehr auf der Strecke von Siebenbrunn-Leopoldsdorf nach Engelhartstetten. 1999 von den ÖBB verkauft, findet das Bahnhofsgebäude Breitstetten heute Verwendung als Dampfmaschinenmuseum. Vom längst verlassenen Bahnhof Kopfstetten-Eckartsau reisten Kaiser Karl und seine Familie 1919 in ihr Schweizer Exil. Die Station in Haringsee kann als positives Beispiel dienen. Mit leuchtend schönbrunnergelber Fassade wurde es "stilvoll renoviert und dient nun als Therapiezentrum."
Mit den Zügen sind die Bahnhofs-Restaurationen verschwunden, wie in Schönfeld-Lassee oder in Gerasdorf, wo man Fremdenzimmer mieten konnte. Dorfwirtshäuser mussten zusperren, wie Beispiele etwa aus Probstdorf, Markgrafneusiedl, Obersiebenbrunn oder Deutsch-Wagram zeigen. Manche Lokale mit charakteristischer Architektur - Eckeingang, Attika mit Firmenname - fanden später Verwendung als Geschäfte. Doch auch für diese rentierte sich der Betrieb nicht. Der optimistische Sechzigerjahre-Stil mit großen Auslagen, Eloxalfenstern und Lichtreklamen wirkt nach einem halben Jahrhundert ebenso nostalgisch wie das gekachelte Portal einer Fleischerei in Marchegg, die Sgrafitto-Dekorationen einer Bäckerei in Marchegg oder der geschlossene Rollbalken einer Greißlerei in Engelhartstetten. Die traditionsreichen Gewerbe der Schmiede und Wagner sind ebenso Geschichte wie eine Tabaktrockenanlage in Obersiebenbrunn.
Vor mehr als 40 Jahren galt das Autokino in Groß-Enzersdorf als Sensation. Auf drei Leinwänden wurden verschiedene Filme gezeigt, während es sich die Zuschauer in ihren Autos gemütlich machten. 2015 geschlossen, finden auf dem Gelände jetzt Flohmärkte statt. Dorfkinos fanden manchmal andere Verwendung wie in Orth als (inzwischen gesperrte) Diskothek oder in Markgrafneusiedl als Aufbahrungshalle.
Für Volksschulen bot sich oft eine kulturelle Verwendung an, wie In Oberhausen als Bücherei und Pfarrcafé. In Probstdorf wurde die älteste Schule des Marchfelds (1778) zum Kulturforum. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Schulgebäude von Baumgarten an der March hat einen dreigeschossigen Glockenturm und ein Relief über dem Portal. Es wird im Kunstführer "Dehio" ebenso erwähnt wie ein gemauerter Taubenschlag in Witzelsdorf aus dem Jahr 1922. Viele landwirtschaftliche Gebäude sterben in Schönheit, weil sich die Produktionsmethoden geändert haben. Holzstadel sind dem Verfall preisgegeben. Für manche Milchhäuser fanden sich neue Verwendungsmöglichkeiten, wie für das ehemalige Genossenschaftshaus in Breitstetten, das der Musikverein nützt. In Zwerndorf sind mehrere Vereine eingezogen, in Witzelsdorf die Feuerwehr.
Bei den Wohnhäusern warten viele auf bessere Zeiten. Man kann ihnen nur Retter wie Gottfried Laf Wurm wünschen. Sein Epilog zur Sage stimmt traurig: "Ich bin sicher, dass eine Zeit kommen wird, in der man den heute errichteten Einfamilienhäusern mit angeschlossener Landwirtschaft nachtrauern wird. Das Marchfeld wird seine Bedeutung als Kornkammer verlieren, und seine ländliche Kultur wird zwischen den beiden europäischen Hauptstädten Bratislava und Wien, die nur 60 Kilometer voneinander entfernt sind, wie zwischen zwei Mühlsteinen zermalmt."
Karl Zellhofer ist optimistischer: "Das Buch soll nicht den Eindruck einer sterbenden Region vermitteln - dem ist im Marchfeld keineswegs so. Es soll der Wandel aufgezeigt werden. Was verschwunden ist, wird stets durch anderes ersetzt … Zahlreiche neue Gewebebetriebe und touristische Impulse wie Marchfeldschlösser, das Eisenbahnmuseum Strasshof, der Nationalpark Donauauen und die zukünftige Landesausstellung in Marchegg sorgen zusätzlich für Prosperität in dieser Region."