Notiz 066: Raum und Körper#
(Wo bin ich, wenn ich überall bin?)#
von Martin KruscheDie Debatte über das Verhältnis zwischen virtuellen Welten und Realraum sind weitgehend verklungen. Leider. Inzwischen haben wir auch ein wenig vergessen, daß sich vor unseren Haustüren öffentlicher Raum auftut, der ja prinzipiell uns allen gehört, also: dem Gemeinwesen gehört. Wir brauchen ihn zwar auch, damit die Wirtschaft florieren und der Verkehr rollen kann, aber ursprünglich und kulturell wie politisch ist er Lebensraum der Menschen, Ort für Begegnungen. Öffentlicher Raum war schon in der Antike Marktplatz und Versammlungsort, das Terrain, auf dem Reden gehalten und Debatten geführt wurden.
In den 1980er und 1990er Jahren machten wir mit dem Aufkommen der neuen Medien, eigentlich: der neuen Mediensituation, markante Erfahrungen. Die betrafen ganz wesentlich Teleworking und Telepräsenz. Bald hatten wir über Simulationswelten nachzudenken, über Interaktivität und Immersion im Umgang mit Maschinensystemen.
Das Motiv tauchte erst in der Cyberpunk-Literatur auf und wurde dann technische Realität: der Mensch stöpselt sich in das System ein, geht in die „Matrix“, läßt den Körper zurück und betritt bloß kognitiv virtuelle Räume. Nach der Literatur von Autoren wie William Gibson und Bruce Sterling kamen die Filme, mit denen uns solche Szenarien nahegebracht wurden. Inzwischen sind wir mitten in der Vierten Industriellen Revolution.
So wurde es naheliegend, zwischendurch zu fragen: wo bin ich, wenn ich überall bin? Und was mochte das für ein ganzes Gemeinwesen bedeuten, für einen ganzen Staat? Was bewirkte das an Europa mit seinen alten Trennlinien? Ich bin ein Kind des Kalten Krieges. Der Eiserner Vorhang fiel erst am 27. Juni 1989, da war ich schon etliche Jahre mit der Nutzung von Computern vertraut, mit ersten erschwinglichen Formen der Online-Vernetzung.
„HIER: Ein Staat, mein eleganter, großzügiger Geliebter, den ich ohne Gewissenbisse jederzeit verlassen kann. DORT: Ein Land, das mich immer wieder zu verführen sucht, trotz der Narben, die man vor mir verbergen möchte. Zehn Jahre so.“
Diese Passage findet sich im ersten Teil der Notiz „Hier, dort oder anderswo…“ von Mirjana Peitler-Selakov, die aus Serbien stammt. Die Kunst-Kuratorin, überdies Diplomingenieurin der Elektrotechnik, wurde 1965 in Sombor (Provinz Vojvodina) geboren. Josip Broz Tito starb 1980.
Das bedeutet, sie brachte aus dem Untergang Jugoslawiens Erfahrungen mit, die nahe an unseren liegen, denn das war kein Ostblockstaat, aber dennoch differieren, denn es war eine Jugend gemäß einem sozialistischen Gesellschaftskonzept.
Im Text heißt es weiter: „Zuerst kommt immer die Müdigkeit. Schon Tage vor der Rückkehr in die Heimat ist die Müdigkeit da. Müde des banalen Alltags. Müde der Heuchelei, des Jammerns, des So-tun-als-ob, worin man auf die Dauer Meisterschaft entwickeln kann. Aber doch müde. Dieses satten, pathetischen Flecken Europas müde, der vor sich hin lebt, im Konsum, im augenblicklichen Vergessen. Oder in kurzen, sterilen Erregungen, die zum Glück keine Spuren im Gesicht hinterlassen. Die Kunst der wirklichen falschen Gefühle.“
Diese Zeilen gehören zu einem unserer Projekte aus dem Jahr 2001: „Next Code: Schatten“ (Quelle) Mich haben ihre Erlebnisse und jene von Kunstschaffenden des alten Jugoslawiens sehr interessiert, weil in den Kriegstagen der 1990er Jahre der öffentliche Raum eine spezielle Bedeutung bekommen hatte, vor allem auch im Zusammenhang mit leiblicher Anwesenheit in den Städten.
Ich denke an Formationen wie „Led Art“ rund um Nikola Dzafo, die Konfrontationen mit dem Milosevic-Regime suchten, mit dessen Polizei zusammenstießen oder während aktiver Kampfhandlungen Präsenz auf öffentlichen Plätzen zeigten. Siehe dazu „led ART klinika: crime reconstruction“ (steirischer herbst 2008)! Und hier das „LED ART Testament“.
Ein Jahr davor, 2005, habe ich im Rahmen von „martin krusche's long distance howl“ das Teilprojekt „THE CYBERTRAIL / NEXT CODE: GLEISDORF“ realisiert. Ich schrieb damals zum Thema „Neue Räume“ (Next Code: Zum Hintergrund des Vorhabens) unter anderem:
„Lagerfeuer, Dorfbrunnen, urbane Agora ... wie mögen sich solche Gravitationsfelder menschlicher Gemeinschaft unter den angedeuteten technischen Innovationen weiter entwickeln? Vor allem als Kristallisationspunkt des Unterschiedes zwischen öffentlichem und privatem Raum. Sind wir in antiquierten Bildern befangen, während uns längst ‚neue Verhältnisse‘ aufgesogen haben?“ (Quelle)
Dort heißt es auch: „Das Erzählen wird als anthropologisches Bedürfnis gedeutet. Sprechen, Hören, Austausch … der fundamentale Zweck einer Agora als dem klassischen Ort der leiblichen Anwesenheit im politischen Sinn.“
Der öffentliche Ort und leibliche Anwesenheit als ein Politik stiftendes Ereignis, als eine Grundlage der Polis. Philosophin Elisabeth List (†) gab uns bei einem gemeinsamen Projekt einige wichtige Anregungen mit dem Text „Leiblichkeit, Realität und Virtualität in semiotischer Perspektive“.
Da heißt es unter anderem: „In diesem Rahmen sollte es gelingen, die Beziehung von Selbstsein und Verkörpertsein neu und besser zu verstehen. Ausgehend von der Verbindung von Körper und Selbst stellt sich die Frage nach dem Subjekt neu und damit auch die nach dem Ort von Subjektivität.“ (Quelle)
In der Frage sind wir die letzten 15 Jahre nicht viel vorangekommen, während sich – wie oben erwähnt - in eben dieser Zeit die Vierte Industrielle Revolution ganz unübersehbar durchgesetzt und etabliert hat. In jenem Text von List findet sich noch so manche interessante Passage, zum Beispiel: „Aber noch in anderer Hinsicht ist Descartes´ Modell des Subjekts als sich selbst denkend unangemessen. Ein Subjekt sein bedeutet, mehr als eine Vorstellung, ein Bild, ein Wissen von sich selbst zu haben. Es bedeutet auch, die Fähigkeit zu haben, aktiv zu sein, spontan zu handeln, Positionen einzunehmen, durch Handeln in die Umwelt einzugreifen.“
Das ist natürlich eine Feststellung von politischer Relevanz. Bild und Wissen von sich selbst haben. Aktiv sein, spontan handeln, Positionen einnehmen. Hier gibt uns die Grazer Philosophin praktische Hinweise auf das, was Aristoteles meinte, wenn er den Menschen als Zoon politikon sah, als Wesen, das zum Leben in Gemeinschaft neigt.
List meinte: „Daraus folgt, dass wir das, was wir sind, nicht durch einen Akt der Introspektion ‚entdecken‘, sondern durch unser Handeln als verkörperte Wesen bringen wir das, was wir sind, selbst hervor. Mit anderen Worten, wir sind, was wir sind, als Selbst in Vollzug…“
Ja, ich muß solche Sätze ebenfalls zweimal lesen, um alles, was hineingepackt wurde, zu entschlüsseln. Ich denke nun freilich auch an Hannah Arendts Werk „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“.
In der englischen Ausgabe „The Human Condition“ konnte man schon 1958 lesen, was 1960 in der deutschen Fassung so klang: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“
Arendt verstand Arbeiten, Herstellen und Handeln als drei menschliche Grundtätigkeiten. Das meint, der Mensch ist tätig, indem er 1) arbeitet, 2) werktätig ist, also etwas herstellt, indem er 3) handelt und spricht.
Wir sind in weitreichenden Veränderungen angekommen, die sich allein schon durch die letzten Gemeindezusammenlegungen auch in unserem Lebensraum abbilden. Es ist dringend nötig, darüber zu reden, worauf sie eine aktuelle Wir-Konstruktion inhaltlich stützt, welche Regelwerke wir dafür brauchen und wie sich das in lokalen Gegebenheiten, in Raumsituationen ausdrückt.
- Zum Thema: „Der Pfeifer im Sturm“ (Eine Gleisdorfer Situation)
- Dorf 4.0: Die Notizen-Übersicht