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Notiz 072: Über ‚Verdinglichung‘ als Verwechslung von Landkarte und Landschaft#

Von Günther Gettinger#

Ich liebe gute Aphorismen, denn die wirklich guten sind ganze Gedankensysteme ‚in a nutshell‘. Sie stellen das dar, wozu andere ganze Bücher verfassen müssen: fruchtbare Samenkörner des Denkens, Kerngedanken. Ein guter Aphoristiker kann in einem Satz kondensieren, worauf es sachlich wesentlich ankommt.

Günther Gettinger (Foto: privat)
Günther Gettinger (Foto: privat)

Ich beginne daher mit drei Aphorismen, die das Thema treffen / betreffen (die Autoren lass ich bewusst weg, sonst zählt der ‚Name‘ des Denkers mehr als sein Gedanke. Heute kann das ohnehin alles leicht ‚gegoogelt‘ werden….): „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“
„Was ist das Schwerste vor allem?“ fragt derselbe Denker. Und gibt die überraschende Antwort: „Was dir das Leichteste dünkt. Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt“.

Und ein anderer erläutert diesen Satz:
„Erfahrung ist nicht, was Dir widerfährt. Erfahrung ist das, was Du aus dem machst, was Dir widerfährt.“

Ich würde jetzt am liebsten schon wieder mit dem Schreiben aufhören und Sie über diese drei Sätze selber meditieren und dialogisieren lassen. Ehrlich. Möchten Sie das bitte tun bevor sie weiterlesen? Ich muss nämlich weiterschreiben. So verlangt es die Konvention und der Auftraggeber dieser Zeilen.

„Wer das erste Knopfloch verfehlt ...“ Ist ihnen das schon passiert? Ärgerlich, irritierend. Aber zumindest merkt man den Irrtum sehr bald und wird ihn auch leicht auflösen können, sofern man es nicht mit einem gordischen Knoten zu tun hat. Aber der Satz ist ja primär nicht wörtlich, sondern sprichwörtlich gemeint. Er ist eine Metapher. Was ist eine Metapher?

Ja, eine Art von Vergleich von an sich Unvergleichbarem, sagt unsere Intuition. Präziser: Etwas ‚als etwas‘ sehen können, ein Fingerzeig. „Erst durch das Phänomen des Wechsels des Aspekts scheint der Aspekt vom übrigen Sehen abgelöst zu werden. Es ist, als könnte man nach der Erfahrung des Aspektwechsels sagen: ‚Es gab also da einen Aspekt!‘“ sagt der Philosoph Wittgenstein dazu. Und er nennt das gewöhnliche verdinglichende Sehen und Denken ‚aspektblind‘.

Bild 'frau'

Nehmen Sie Kippbilder zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts her, das bekannte Bild der jungen und alten Frau zum Beispiel:

Wie alt ist die Frau auf diesem Bild? Hängt ganz davon ab, wie man die Abbildung betrachtet.

Es gab da also einen ‚Aspekt‘, eine bestimmte Art zu sehen (die wir aber nicht sehen können, während wir sehen), sagt man im Nachhinein, nach dem ‚Aspektwechsel‘. Wittgenstein trifft mit seiner Bemerkung über das Wesen von Metaphern also den sprichwörtlichen Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf.

Lesen Sie bitte jetzt nochmals die beiden eingangs zitierten Aphorismen. Die erscheinen plötzlich in einem anderen, viel klareren Licht, oder?

Ok, das erste Knopfloch hätten wir damit also erwischt.

Reicht aber noch nicht. Denn „Was ist das Schwerste vor allem? Was dir das Leichteste dünkt. Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt“. Die Welt ist ja kein Kippbild, werden Sie sich (und mir) sagen, es gibt ja ‚objektiv mehr oder weniger zutreffende Beschreibungen der Wirklichkeit‘ durch die Wissenschaften und den Alltagsverstand. Funktionierende Alltagspragmatik. Ich lasse mich in diesem Punkt nicht irre machen.

Ok. Damit wären wir jetzt im Herzen der Angelegenheit angelangt, die wir hier verhandeln. Klar, Wissenschaft und Technik funktionieren unter dem Aspekt der Funktionslogik, völlig d’accord. Und zwar hervorragend, perfekt. Aber gerade heutzutage merken wir, dass dennoch ‚etwas fehlt‘, und das, was fehlt, ist auch schnell benannt: die ‚Interdisziplinarität‘, der kohärente ‚Gesamtblick‘. Und keine Einzelwissenschaft, keine Einzelperson kann diesen für sich in Anspruch nehmen. Und plötzlich sind wir wieder bei der ‚Aspektblindheit‘ inmitten aller Funktionslogik gelandet. ‚Etwas‘ (ein Phänomen) ‚als etwas objektiv (aus allen möglichen Blickrichtungen) sehen können‘, das erweist sich jetzt tatsächlich als ‚das Schwerste von allem‘.

Wer das jetzt ‚wirklich kapiert hat‘, d.h. sich von der Problematik kognitiv und emotional hat berühren lassen, der hat auch verstanden, was mit ‚verdinglichendem Sehen und Denken‘ gemeint ist: die gängige ‚Aspektblindheit‘.

Womit wir beim dritten Aphorismus gelandet wären. „Erfahrung ist nicht, was Dir widerfährt. Erfahrung ist das, was Du aus dem machst, was Dir widerfährt.“ Wir konstruieren uns ständig ‚Wirklichkeiten‘, ohne zu wissen, dass wir selbiges tun. Und zwar individuell und kollektiv.

Und weil alle glauben, mit ihren Sichtweisen im Recht zu sein (‚ich erlebe das wirklich so‘), entstehen heute immer mehr unauflösbare Gegensätze und Widersprüche. Diese Ansichten verhärten sich wie feste Gegenstände und ‚stoßen sich wie Dinge hart im Raum‘.

Der Ausweg aus diesen scheinbaren Ausweglosigkeiten ist somit klar geworden, oder?

Offener Dialog!#

„Das Denken tut etwas und sagt dann: ich war es nicht“. Im Alltag gehen wir zumeist davon aus, dass unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken ungebrochen „die ganze Wirklichkeit“ erfassen. Dem ist aber nicht so. Unser Denken, Fühlen und Handeln ist stark selektiv – wir wissen das aber nicht, wenn wir schauen, hören, fühlen, denken und handeln.

Im Dialog erfahren wir unmittelbar die Relativität (relative Gültigkeit) unseres Denkens und Fühlens. Was für uns ganz selbstverständlich und notwendig ist, das mag für andere gar nicht so sein. In „gewöhnlichen Gesprächen“ versucht dann jeder den anderen von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Dieses strategische „Ringen um die richtige Sichtweise“ hat einen Namen: Diskussion.

Diskussionen führen daher nur ganz selten zur Selbstwahrnehmung des Denkens. Damit dieser Prozess überhaupt in Gang kommen kann, muss nämlich etwas zwischen den Gesprächspartnern wirksam sein, das man gewöhnlich mit den Worten „Wohlwollen“ und „Freundlichkeit“ bezeichnet. Also etwas, das alle Gesprächspartner miteinander verbindet, erfüllt und durchströmt. Das ist der tragende Grund dialogischer Kommunikation.

Jedes Gespräch setzt diesen tragenden Grund bis zu einem gewissen Grad ohnehin voraus, andernfalls wäre und wird Verständigung unter Menschen unmöglich. Ohne diesen Mitteilungsimpuls ( = sich offen und behutsam mit all seinen Eigenheiten vor den anderen darstellen), und ohne diese Bereitschaft zu intensivem Mitempfinden ( = Zuhören) ist Selbsterforschung des Denkens unmöglich.

Dialog ist also die Öffnung des je eigenen Denkens auf das Denken der Anderen hin, die feinfühlige Überwindung der Egozentrik des Denkenden. Dialog ist die einzige Form von Vergesellschaftung, die letztlich nicht auf Gewalt und Willkür, also auf unhinterfragbare Autorität hinausläuft (womit auch klar ist, warum diese Fähigkeit allgemein so unterentwickelt ist).

Dialog ist Läuterung, Erneuerung des Denkens vom seinem Ursprung her.

Daher ist Dialog sehr oft ziemlich mühsam und anstrengend. Solange wir in unseren Gedanken reflexartig verhaftet kreisen, verfehlen wir einander. In solchen gedanklichen und emotionalen Fixierungen finden sozialen Prägungen ihren materiellen Ausdruck. Dieses Unvermögen zum „freien Schweben zwischen unterschiedlichen Perspektiven“ wird in echtem Dialog unverfälscht erlebbar, was manchmal bis zur Verzweiflung gehen kann.

Aber erst das Erleben und Aushalten dieser unvermeidlichen „Enttäuschungen“ schärft jenen „Hunger und Durst“ nach frei fließender Kommunikation, in der sich das Denken seiner illusionären und damit isolierenden Wirklichkeit selbst bewusst werden kann.