Themen einer Nacht#
Stunden auf Schloß Freiberg#
von Martin KruscheAn der Stirnseite des Saales von Schloß Freiberg stand eine komplexe Maschinerie, die mit dem Hebel einer Pumpe in Gang gesetzt werden konnte. Diese Pumpe war auf einem Faß mit Wasser montiert. Angelpunkte, Hebel und Wasserkraft, an einigen Stellen ein wenig Feinmechanik. Eine Anordnung von Komponenten, wie wir sie in Europa seit der Antike zur Verfügung haben.
Wo man das Ganze historische weiterdenkt, klingt dabei auch die herausragende Leistung römischer Handwerker an, wenn sie Aquädukte bauten, um die Menschen in größeren Ansiedlungen mit gutem Wasser aus entlegeneren Quellen zu versorgen. Unsere Existenz hat diesen speziellen Aspekt, der sich in vier Worten erschöpfend ausdrücken läßt: ohne Wasser kein Leben. Ist es verdorben oder nicht greifbar, stürzen wir ins Elend.
Das war Teil einer kleinen Veranstaltungsreihe der Kulturinitiative Fokus Freiberg, wo Gastgeber Ewald Ulrich noch nie billigen Wein ausgeschenkt hat. So könnte an der Stelle auch folgendes historisches Detail anklingen: In der Antike war es üblich, den Wein mit Wasser zu mischen. Wer den Wein damals pur trank, kam leicht in den Ruf ein Säufer zu sein.
Dieser Tag reicher Assoziationen war der erste November. Allerheiligen. Auch ein Angelpunkt. Der des mehrtägigen Totengedenkens. Ein bescheidener Rest jener Ars moriendi, von der man noch in Büchern lesen kann, der „Kunst des Sterbens“, also einer Kultur des Umgangs mit menschlicher Sterblichkeit und dem unausweichlichen Tod. Zu dem Thema kam ebenfalls ein Gast ins Schloß.
Die eingangs erwähnte Maschinerie ist eine Arbeit von Künstler Riccardo „Sammo“ Casagrande. Er nennt sie „Wasserharfe“. Sie macht eine Musik, die keiner präzisen Vorgabe folgt, sondern die sich aus der mechanischen Eigenheit der Apparatur und dem Fluß des Wassers ergibt, welcher wiederum von jener Person geregelt wird, die den Hebel der Pumpe bedient.
Das steht in der Tradition von Windharfen, wie wir seit dem Altertum kennen, auch von Windspielen aus metallenen Glöckchen oder schlicht aus Bambusstücken. Menschen haben sich immer wieder entschlossen, auf eigene Partituren zu verzichten und Werke zu schaffen, die einem Spiel der Möglichkeiten gewidmet sind. Genau das ist übrigens eine bedeutende Grundlage unserer Existenz. Das Spiel der Möglichkeiten. (Wie nennen es auch Evolution.)
Zu desem Angebot der Wahrnehmungserfahrungen kam ein diskursives Element, fand an jenem Abend im Saal von Schloß Freiberg eine Dialogveranstaltung mit Harald Ettl statt. Er ist Vorstandsvorsitzender des Wiener Kriseninterventionszentrums, war überdies von 1989-1992 österreichischer Gesundheitsminister. Ettl legte das Thema „Leben und Sterben“ vor, welches manchen Menschen in tiefen Krisen zu einem „Leben oder Sterben“ wird. Er steht im Lager derer, die dann für einen Augenblick die Entscheidung in Richtung Leben beeinflussen möchten, damit sich Gelegenheiten auftun, diese Frage – Leben oder Sterben – mit sich selbst neu zu verhandeln.
Bei genauem Hinsehen erwies sich der Abend als ein Ausleuchten der Conditio humana. Was sind unsere Bedingungen und was sind unsere Möglichkeiten? Das läßt sich über sinnliche Erfahrungen erschließen, das mag in der Reflexion auch zu sprachlicher Verständigung führen. Diskurs!
Als Josef Pieper sich damit beschäftigte, wie sich Thomas von Aquin mit Aristoteles beschäftigt hat, führte das zu einem Text mit dem Titel „Muße und Kult“. Darin notierte er, im Mittelalter habe man zwei Vorstellungen von Vernunft gehabt. Ratio und Intellectus. Ratio sei die Kraft des diskursiven Denkens, des Suchens und Untersuchens, des Abstrahierens, des Präzisierens und Schließens. Intellectus sei dagegen die Fähigkeit zum simplex intuitus, zum „einfachen Schaublick“. Den verdeutlicht er mit einer eleganten Metapher: Dem einfachen Schaublick biete sich das Wahre an wie dem Auge die Landschaft.
Pieper hat also, Thomas und Aristoteles folgend, hier keine Hierarchie der Optionen behauptet, nicht eine menschliche Eigenschaft über die andere gestellt. Es sind zwei verschiedene Optionen, die wir gleichermaßen nutzen. Sie ergänzend nicht nur einander, sondern auch das, was uns sonst noch an Wahrnehmungserfahrungen erreicht. Genau das meint Ästhetik eigentlich, vom griechischen Aisthesis = Wahrnehmung. Dem steht die Anaisthesis gegenüber, die Betäubung oder Anästhesie.
In diesem Sinn waren an jenem Abend im Schloß für die Gäste sinnliche, rationale und intellektuelle Erfahrungen zu machen. Wer Kunstwerke nicht bloß als Dekoration seines mehr oder weniger inspirierten Lebens begreift, sondern als die Ergebnisse eines grundlegenden menschlichen Handelns, kann entdecken, wie sehr derlei Abende uns allen gewidmet sind, während kommerzielle Einrichtungen uns die Ohren mit Wohlfühlangeboten vollbrüllen, ohne auch nur annähernd einzulösen, was uns deren Marktschreierei alles verspricht.
Im Rahmen jener Veranstaltung wurden ebenso Gemälde und Objekte von Michaela Knittelfelder Lang und von Gilbert Kleissner ausgestellt, wie auch Casagrande eine Auswahl an Bildern zeigte. Es war folglich für eine Fülle von Eindrücken gesorgt, die einem gleichermaßen sinnlich und gedanklich zufielen.
Ettl stellte in diesem Ambiente verschiedene Überlegungen zum therapeutischen Potential von künstlerischer Arbeit zur Diskussion, wo Kunstpraxis in menschlichen Krisen allenfalls mildernd wirken könnte, auf jeden Fall beitragen würde, daß jemand dem Leben zugewandt bliebe. Dabei mag es verlockend erscheinen, die Kunst selbst als ein „Mittel, um zu…“ anzusehen.
Kann sie das? Es sind künstlerische Techniken, die in ihrer Ausübung eine wohltuende Wirkung entfalten können, die ganz offensichtlich als therapeutische Mittel taugen. Die Kunst selbst entzieht sich solchen Optionen, bleibt in der Transzendenz. Freilich kann die Zuwendung zu diesem transzendenten Bereich dem Menschen auch dienlich sein. Wir wissen das durch den Umstand, daß jeder Mensch spirituelle und kulturelle Bedürfnisse hat, ganz egal, auf welche Art diese ausgelebt werden.
Hier findet die Krisenintervention ihre Chance, jemanden zu ermutigen, wo das Leben zur unerträglichen Bürde geworden ist. Ettl betonte unmißverständlich, daß es um diese Momente der Ermutigung gehe, die man von außen verstärken könne, während das Lösen der Probleme den Betroffenen selbst überlassen bleiben müsse.
Der Abend zeigte in seinem klug geschichteten Themenangebot, wodurch solche Veranstaltungen unverzichtbar sind. In einem überschaubaren Rahmen mit seinen künstlerischen und soziokulturellen Momenten, wo all das nicht von anderen Agenda übertönt wird, darf Debatte stattfinden, darf sich auch Dissens als anregend erweisen. Es geht ja nicht darum, jemanden zu belehren, sondern Impulse anzubieten und durch den Dialog Anlässe zu haben, die eigenen Ansichten zu überprüfen, konkret zu machen.
Das sind erfahrungsgemäß keine Abende, mit denen man in der medialen Berichterstattung renommieren kann. Aber sie sind sehr viel mehr ein Stück des Fundamentes unseres geistigen Lebens im Gemeinwesen, als es jene Kulturveranstaltungen je sein könnten, bei denen mit großen Gesten Reden und Blumensträuße geschwungen werden.
- Siehe zu diesem Text auch: „Die drei Sektoren“ (Kulturpolitische Aspekte)
- Kontext: Dorf 4.0