Wegmarken und Widersprüche#
(Über Komplexität, die nicht reduziert werden möchte)#
von Martin KruscheIch sehe mir nun seit Jahren Klein- und Flurdenkmäler an, sakrale und profane Wegmarken unserer Kulturlandschaft. Das bringt mich auch jedesmal zu interessanten Gebäuden. Dazu kommen Friedhöfe, von denen manche wie ein Panoptikum äußerst kontrastreicher ästhetischer Konzepte wirken. Eine abenteuerliche Schau der Ausdrucksformen menschlicher Emotionen. Ich mag das sehr, denn ich bin voller Neugier und Schaulust. Ich muß sehen, sehen, sehen.
Ich mag darüber staunen, welche Mitteilungen ich auf diesen Touren finde, welche versteinerten Versionen innerer Zustände von bewegten Menschen. Es ist ein tiefer Zauber in all diesen Dingen. Indem ich mich zwischen derlei Zeichen und Artefakten bewege, berührt mich das Leben unzähliger Menschen quer durch mehrere Jahrhunderte.
Daran ist nichts Rätselhaftes. Abertausende Handgriffe haben so viele Gegenstände bewegt, sortiert, zusammengefügt, geformt. Wir sind aus ganz einfachen Gründen für das empfänglich, was diese Dinge bewahren.
Jeder Mensch hat spirituelle und kulturelle Bedürfnisse, die auf sehr unterschiedliche Arten ausgelebt werden.
Das tun wir selbst, dieses vielfältige Ausleben solcher Bedürfnisse, darum können uns andere mit ihren Äußerungen erreichen. (Nur in sehr brutalisierten Gesellschaften versagen solche Bindungen völlig.)
Gerade diese Zeichensysteme, hauptsächlich im öffentlichen Raum, erinnern daran, daß wir nicht bloß in Worten denken, sondern auch in Bildern und Emotionen. Emotionen helfen uns entscheidend beim Deuten und Beurteilen von Umständen, sind ein wichtiges Terrain, auf dem uns Erfahrungen nutzbar werden.
Emotionen sind radikal körperlich. Wo der Körper in Kognition und Reflexion mitwirkt, sind wir im Raum, machen wir Raumerfahrungen, sind wir in der Welt. Dabei ist nicht bloß Raumüberwindung wichtig, also Bewegung, sondern auch die Gestaltung des Raumes und schließlich die Frage, mit welchen Botschaften die Außenhaut der Dinge bespielt werden.
Das bedeutet, die Klein- und Flurdenkmäler sowie die Bauwerke sind zugleich ein riesiges Kommunikationssystem, mit dem wir uns umgeben haben. Sie ergeben eine Info-Sphäre = Informations-Umwelt. Eine informationelle Umwelt, wie sie neuerdings auch in EDV-gestützter Version besteht; durch das Netz der Netze (Internet) und eine Unzahl von Personal Devices, durch welche Menschen rund um die Uhr miteinander vernetzt sind, miteinander kommunizieren. Mehr noch, diese Personal Devices sind Maschinchen, welche auch eigenständig miteinander kommunizieren.
Innerhalb dieser EDV-gestützten Info-Sphäre besteht also diese andere, diese alte, diese vorindustrielle Info-Sphäre mit ihren tradierten Codes, mit ihren althergebrachten Zeichensystemen. Diese werden aber, weil Kultur nun einmal so funktioniert, stets auch abwandelt, paraphrasiert, stellenweise mit neuen Codes überschrieben.
Sie können diese Effekte kaum wo so geballt betrachten wie auf Friedhöfen. Doch auch wenn Sie die Wegkreuze und Bildstöcke einer Region erkundet haben, werden Sie feststellen, daß hier Arbeiten aus ganz verschiedenen Epochen vorhanden sind und dabei in höchst unterschiedlichen Qualitätsstufen vorkommen.
Das berührt eine interessante Überlegung. Was aus privater Initiative entstand, ist Ausdruck von Volksfrömmigkeit, für die Kunstkritik keine Rolle spielt. Was aber den öffentlichen Raum gestaltet und mit Inhalten belegt, mit allerhand Botschaften, muß in kritischen Debatten erörtert werden dürfen. Kritik ist die Urteilsbildung durch Vergleiche, gestützt auf Kriterien. So geht man etwa in der Kunstgeschichte vor, um stets neu zu klären, welche Werke als relevant gelten dürfen und welche man allenfalls übergehen könne. Diese Art kritischer Auseinandersetzung ist natürlich auch den Klein- und Flurdenkmälern zugänglich, da sie meist Mitteilungen im öffentlichen Raum sind.
Aber sie sind eben auch etwas ganz anderes. Wer leidend oder todgeweiht ist, braucht keine kritischen Diskurse zu kulturgeschichtlichen Fragen. Wer Trost sucht, eventuell untröstlich blieb und dem Ausdruck verleiht, wird sich dabei nicht auf Kunstkritik einlassen. Um es vielleicht etwas spröde und möglichst unaufgeregt zu formulieren, dieses Zeichensystem in unserer Kulturlandschaft tritt ganz unterschiedlich in Erscheinung, je nachdem, ob ich es sozialgeschichtlich oder kunstgeschichtlich betrachte.
Aber so ist es ja auch mit uns Menschen und unseren Identitäten. Die sind nie bloß eindimensional. Wir sind auf viele Arten zugehörig und nach ganz unterschiedlichen Kriterien beschreibbar.
Damit wäre ich wieder bei diesem interessanten Aspekt von Kultur, der Vieldeutigkeit. In dieser Vieldeutigkeit sollte uns sozialer Zusammenhalt gelingen, der heute auf anderen Prinzipien beruht als zu Zeiten einer ständischen Gesellschaft. Das ist knifflig geworden, denn offenbar wollen wir zwei einander begrenzende Möglichkeiten leben. Wir wünschen zugleich Zugehörigkeit und Autonomie. Das ist eine fordernde Situation für alle Arten von Beziehungen. Das braucht intelligente Auseinandersetzungen. Die Befassung mit kulturellen Zusammenhängen und geschichtlichen Dimension dürfte dabei nützlich sein. Wahrheit läßt sich eben nicht einfach generieren, indem man anfängt, Widersprüche zu eliminieren. Was Intelligenz angeht, heißt es übrigens, sie sei die Fähigkeit, über zwei einander widersprechenden Ansichten nicht den Verstand zu verlieren.
- Ein Beitrag zum Projekt „Wegmarken“