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Zeichen und Markierungen#

(Unser Lebensraum als Kulturraum)#

von Martin Krusche

Als ich vor Jahren begann, mir Wegkreuze, Bildstöcke, aber auch profane Markierungen in unserem Lebensraum genauer anzusehen, war ich bald überrascht, mit welcher Dichte sie uns umgeben. Man muß sehr entlegene Plätze aufsuchen, um nicht laufend ein nächstes Beispiel vorzufinden. Über die ästhetische Erfahrung, sie in ihren Erscheinungsformen zu betrachten, entstand bei mir der Wunsch, sie auch inhaltlich zu erkunden. Flüchtige Anschauung genügt schon, um zu erkennen, da werden Geschichten erzählt.

Bild 'weg01'

Es sind freilich nicht bloß Geschichten im Sinn einer Mär. All diese sehr bewußt gesetzten Zeichen haben Anlässe und Zusammenhänge, durch die sie mit dem realen Leben von konkreten Menschen verknüpft sind. Wenn herrschaftliche Baukunst und Raumgestaltung ganz wesentlich der Repräsentanz von weltlicher Macht gewidmet sind, dann treten in diesem weitreichenden Zeichensystem vor allem jene Menschen in Erscheinung, die ohne Macht bleiben.

Als mir das klar wurde, vertiefte sich mein Interesse an jenem kulturellen Phänomen. Mehr noch, ich machte mich ein wenig kundig, begann einige der vorgefundenen Zeichen und Figuren zu entschlüsseln, um zu verstehen, wovon all diese Personen und Symbole erzählen. Dabei war ich überrascht, welche Wucht erkennbar wird, mit der viele Generationen in Abfolge gegen jede Bürde des Lebens und gegen jede Gefährdung der eigenen Person vorgegangen sind; und zwar mit der Kraft der Seele.

Bild 'weg02'

Das war übrigens mehr als notwendig. Beachtet man bloß die letzten zwei- bis vierhundert Jahre, in denen bei uns 80 bis 90 Prozent der Menschen Teil der agrarischen Welt waren, so beeindruckt, welcher Härte des Lebens die Menschen gewachsen sein mußte. Wir Kinder des Wohlstands haben das schnell vergessen und wollen durch Fremde nicht daran erinnert werden. Immer war ein Mangel und oft eine Not. Für Kummer, Krankheit oder Verletzung gab es in der Regel keinerlei Hilfe. Kränkung und Demütigung blieben unerhört. Schlechtes Wetter und Kriegsgefahr blieben ebenfalls eine ständige Bedrohung. Der Hunger schwebte stets über allen. Das scheint mir einer der wichtigsten Aspekte des Themas zu sein. Die über Jahrhunderte tradierte Kraft des Herzens, um in bedrückenden Momenten des Lebens zu bestehen, ist durch dieses umfassende Zeichensystem dokumentiert.

Dazu kommen die ästhetischen Dimensionen, was davon also unsere sinnliche Wahrnehmung erreicht. Ich fand es ganz bemerkenswert, daß die Klein- und Flurdenkmäler, die Wegmarken und architektonischen Elemente, die gestalteten Treffpunkte und festgefügten Mahnungen, mir ein breites Panorama der visuellen Qualitäten zeigen. Das reicht von sehr unbedarften, bemühten und stellenweise schlechten Arbeiten, über das, was man heute vielleicht solide Gebrauchsgrafik nennen würde, bis hin zu Arbeiten von künstlerischem Gewicht.

Daraus darf geschlossen werden, daß eigene ästhetische Erfahrungen und verfügbare materielle Mittel jeweils darüber entschieden haben, in welcher Qualität so ein Zeichen gesetzt und uns hinterlassen wurde. Dabei interessiert mich nun nicht das ästhetische Urteil, sondern die Entschlossenheit der Zeichensetzung.

Läßt man sich auf all das intensiver ein, kommt man unweigerlich zum Schluß: ausnahmslos jeder Menschen hat spirituelle und kulturelle Bedürfnisse. In welchen Formen die dann ausgelebt, nach außen gezeigt werden, hängt von Lebensumständen und individuellen Erfahrungen ab. Dem Kern dieser spirituellen und kulturellen Praxis der Menschen kommt man nicht über ästhetische Urteile nahe. (Das ist eine ganz andere Aufgabenstellung.)

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Codes, Zeichensysteme, sind natürlich wichtig, um menschliche Gemeinschaft zu bilden. Wir sind ganz offenkundig eine sinnsüchtige Spezies, die mit Leidenschaft Zeichen setzt, also über symbolisches Denken kommuniziert. Dem steht uns allen gut erfahrbar gegenüber, daß uns Sinnlosigkeit und der Mangel an gelingender Verständigung gefährden, ja enorm verletzen können.

Einstmals hatten gebildete Kreise das Latein als eine universelle Sprache der Wissenschaft zur Verfügung, die über Landesgrenzen und ethnische Barrieren hinweg einen Wissensaustausch möglich machte. Seinerzeit waren beispielsweise Aristokraten, die sich eine Bibliothek leisten konnten, selbst nicht unbedingt lesekundig, sondern mußten sich Buchinhalte von reisenden Gelehrten vorlesen lassen. Um so weitreichender waren subalterne Schichten von solchen Möglichkeiten abgeschnitten.

Mein Großvater Richard erzählte, in seinen Jugendtagen mußte man entscheiden, ob man sich ein Buch oder ein paar Schuhe kaufte. Literarität eines ganzen Volkes ist ein junges kulturelles Phänomen. Preiswerte Bücher sind es ebenso. Sie kamen erst mit Publikationen wie den Reclam-Heftchen oder den heute gängigen Taschenbüchern (Paperbacks) in unser Leben.

Das mag zusätzlich verdeutlichen, wie bedeutend jenes Erzählsystem ist, das sich unsere Leute mit den Klein- und Flurdenkmälern geschaffen haben. Es ermöglichte einst weiten Kreisen von nicht lesekundigen Menschen, sich über komplexe Inhalte und Zusammenhänge zu verständigen und so in einem Gemeinwesen Verbindlichkeiten zu etablieren. Verbindlichkeiten, die einerseits der Alltagsbewältigung nützen, anderseits – wie erwähnt – spirituelle und kulturelle Dimensionen eröffneten. Das war für die breite Bevölkerung keineswegs selbstverständlich vorgesehen, sondern mußte von den „einfachen Leuten“ errungen werden, während sie ihren Aufgaben innerhalb der ständischen Gesellschaft mit ihren strengen Hierarchien nachkamen.

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In diese Zusammenhang sind diese Klein- und Flurdenkmäler ganz wesentlich ein Ausdruck von Volksfrömmigkeit, die ich in hohem Maß auch als eine seelische Strategie verstehe, mit der die Härten des Lebens bewältigt werden konnten. Man brauchte als Dienstbote, Tagelöhner oder Keuschler in der alten agrarischen Welt immer wieder sehr gute Gründe, um sich nicht aufzuhängen. Man brauchte gangbare Wege, um die Zuversicht zu behalten, was immer einen traf. Man mußte in sich selbst Halt finden, denn die Gemeinschaft der Menschen bot davon sehr wenig.

So verführerisch es erscheinen mag, an einer Gesellschaft ihre herausragenden Werke der Kunst und der Wissenschaft zu bewundern, ist doch hier eine ganz andere Dimension menschlicher Koexistenz präsent und zu beachten. Jede einzelne dieser Wegmarken scheint zu belegen, daß sich jemand bemüht hat, in einem bestimmten Moment über sich hinauszuwachsen. Es sind eben nicht bloß die Kathedralen und Paläste, die unseren Lebensraum zum Kulturraum machen.