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Wolfgang Dolesch, Bürgermeister von Neudau
Wolfgang Dolesch, Bürgermeister von Neudau

Transformation#

(Zu „Der milde Leviathan“)#

Von Martin Krusche#

Neudau, nahe dem alten Grenzfluß Lafnitz, der heute ein Stück von Steiermark und Burgenland trennt. Was für eine unmißverständliche Randlage! Und doch war hier schon mindestens vor zweihundert Jahren nicht ohne weiteres in Kategorien wie „Zentrum und Provinz“ zu denken. Aber ich greife vor. Ich mag den Begriff ja; um ihn abzuschaffen. Meine Wissens- und Kulturarbeit in der Provinz, also abseits des Landeszentrums, bezieht sich auf historische Kategorien, die längst hätten fallen sollen.

Anfang der 1960er Jahre setzte Österreichs Volksmotorisierung mit voller Wucht ein. Formen individueller Mobilität veränderten sich radikal. Anfang der 1990er wurde Österreich über das Protokoll TCP/IP an das Internet angeschlossen. Neue Medienformen stülpten uns eine völlig ungewohnte Info-Sphäre über; die Social Media sind eines der Phänomene aus diesem Prozeß.

Zwischen den 1960ern und 1990ern hatte sich eine globalisierte Wirtschaft etabliert, in der wir einerseits das Denkmodell „Zentrum/Provinz“ vielfach reproduziert haben, in der das andrerseits ein Beharren auf alten Denkmustern ausdrückt.

Ein nächster Auftakt#

Architekt Winfried Lechner und ich trafen uns mit Bürgermeister Wolfgang Dolesch, um ein paar soziokulturelle und künstlerische Optionen zu besprechen, die sich auf die riesige Anlage der einstigen Textilfabrik Borckenstein beziehen. Für mich ist Dolesch ein Glücksfall, weil er die Sozialgeschichte seines Ortes und der Region gut kennt, diese Randlage mit ihrer besonderen Geschichte. Solche Sachkenntnis ist nicht selbstverständlich.

Die Besonderheit liegt in diesem Stück Industriegeschichte. Genau 20 Jahre nachdem James Watt sein Patent für die optimierte Dampfmaschine erhalten hatte, schaffte Graf Karl Batthyány, ein politisch und wirtschaftlich erfolgreicher Aristokrat, auf dem Weg über Hamburg einige der damals neuen Maschinen in die Gegend. Er begründete 1789 eine Textilfabrik, die in aktueller Form kürzlich noch in Betrieb war.

1831 übernahm Georg Borckenstein die Fabrik. Der Name behielt seinen Klang weit über Neudau hinaus. Dolesch kennt den Betrieb aus eigener Anschauung, weil sein Vater da Schlosser gewesen ist und einst den Buben wiederholt in die Fabrik mitgenommen hat. Im Jahr 2019 war endgültig Schluß: „Im Insolvenzverfahren haben laut Kreditschutzverband 1870 bislang 246 Gläubiger Forderungen geltend gemacht. Von den angemeldeten rund 16,4 Millionen Euro wurden rund 13,3 Millionen anerkannt.“ (Woche)

Umbrüche#

Wolfgang Dolesch schrieb sowohl eine Diplomarbeit als auch eine Dissertation darüber, wie sich die Industrialisierung eines Stücks der bäuerlichen Welt auf die Region ausgewirkt hat. Ein gewaltiger Prozeß, den der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi als „The Great Transformation“ beschrieben hat. Das steht exemplarisch für den gewaltigen Umbruch einer agrarischen Gesellschaft in eine Industriegesellschaft. Es handelt unter anderem auch vom Ausgang aus der Feudalzeit, dem Ende der Erbuntertänigkeit und dem Entstehen eines modernen Nationalstaates. Darin spiegeln sich ferner rund 200 Jahre einer permanenten technischen Revolution.
Architekt Winfried Lechner
Architekt Winfried Lechner

Die Geschichte der Neudauer Textilfabrik endet praktisch mit der Dampfmaschinenmoderne, ist über die Dritte Industrielle Revolution nicht hinausgekommen. Die Maschinen sind inzwischen weg, die Hallen stehen leer. Sie haben eine Dimension, zu der wir aus unserem Alltag nichts Vergleichbares kennen.

Lechner ist überzeugt, daß er hier nicht mit dem konventionellen Nutzungskonzept eines herkömmlichen Architekten anzusetzen braucht. Inzwischen hat ein Kreis inspirierter Menschen begonnen, sich über relevante Akzente für dieses Areal Gedanken zu machen. Es geht um Ideen, mit denen auf diesem Gelände und im Raum Neudau eine Art Transition eingeleitet werden kann.

Details?#

Die sind in Arbeit. Was entsteht, läßt sich in konzentrischen Kreisen sortieren. Das Zentrum dieser Anordnung wird auf künstlerischer Ebene derzeit von Joachim Eckl und Marcus Kaiser bestimmt. Ich arbeite am nächsten Kreis, der zwar auch künstlerisch gewichtet ist, aber einen starken Fokus auf Sozial- und Regionalgeschichte hat. Von da aus kann es einen weiteren Kreis mit regionalen Inputs geben. Was sich aber in diesem „Dritten Kreis“ schon abzeichnet, ist mein „Roter Faden“, nämlich die historische Ungarnstraße.

Die Strata hungarica dient mir als Basislinie eines möglichen Koordinatensystems, über das andere Orte von Relevanz einbezogen werden können. Hier greife ich auf ein bewährtes Strukturelement aus der Arbeit von Kunst Ost zurück: die „Autonome Ortsformation“.

Das bedeutet, es können sich lokale Gruppen zu konkreten Teilthemen formieren, einbringen, und dabei in sich völlig autonom agieren. Es gibt dann jeweils eine Schlüsselperson, die den Kontakt zum größeren Ganzen hält. Hier wird bloß laufend dafür gesorgt, daß die getroffenen Vereinbarungen nicht unter den Tisch fallen. Prozeßhafte, kollektive Wissens- und Kulturarbeit.

Mit Bürgermeister Dolesch ist nun ein Auftakt erreicht, damit es einen gelingenden Arbeits- und Kommunikationsprozeß geben kann, in den verschiedene Instanzen eingebunden werden, um für eine Nutzung des sehr großen Areals von ausgetretenen Pfaden wegzukommen. Lechner hat deutlich gemacht, daß derzeit nicht schon ein vorgegebenes Ziel zu beachten sei, sondern daß etwas entwickelt werden solle. Neues kann ja nicht entstehen, wenn wir es per aktuellem Denken formulieren. Es will gesucht werden, indem man unbekanntes (Gedanken-) Terrain erkundet…


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