Episode 47: Der 24. Dezember I#

(Am frühen Vormittag)#

Von Martin Krusche#

Ein Dienstag. Gleisdorfs Stadtzentrum war erwartungsgemäß belebt und von dichtem Straßenverkehr durchzogen. Schon am Tag davor hatten starke Windböen zwischen den Häuserzeilen entlangefegt, dem so allerhand nicht standhalten konnte.

Ich war auf dem Weg, um Fotografin Ida Kreutzer zu treffen, die aus New York vorbeigeschaut hat. Bevor wir uns in einem Café niederließen, erledigter ich noch im Zeit.Raum eine Kleinigkeit, änderte das Arrangement der Weihnachtskrippe.

Mir war danach, erst einmal das Strohlager mit dem Säugling vor dem Gebäude allein zu exponieren. Also verräumte ich alle anderen Figuren. Wie ich erwarten durfte, wirkt die Verlassenheit eines Neugeborenen selbst in der Miniatur-Version beunruhigend.

Es gibt diesen Gedanken, der aus meiner eigenen Vaterschaft kommt, wie er sich einstellt, wenn man so ein hilfloses Wesen in den Armen hält: Eigentlich sind die Kinder, egal welche, ausnahmslos unser aller Schuztbefohlene.

Ich bin unter anderem davon geprägt, daß ich als Kind ertragen mußte, wie sich Erwachsene sogar abwenden, schweigen, wo unakzeptable Übergriffe vorkommen. Ich hab das damals natürlich nicht begreifen können. Ich bin in diesen Dingen nach all den Jahrzehnten immer noch unversöhnlich, ohne jede Neigung, das jemandem zu verzeihen.

Man könnte meinen, da das über 60 Jahre her ist, habe die Gesellschaft mehrheitlich gelernt, sich geändert. Hat sie aber nicht; und in der Steiermark schon gar nicht. Dieser Makel der Gemeinschaft lebt fort. Was sollen mir nun wieder all die Weihnachtswünsche, wenn wir sehen, daß unsere Leute so einen zentralen Mißstand, diesen unerträglichen Makel, nicht überwiegend aus der Welt geschaffen haben?

Innerfamiliäre Gewalt hat in Österreich und speziell in der Steiermark epidemisch Ausmaße. Sexualisierte Gewalt hat daran einen nennenswerten Anteil. Es trifft hauptsächlich Kinder und Frauen. (Der halbnackte Säugling, völlig alleingelassen, als Figur dieser Weihnachtskrippe, drückte das für wenige Stunden aus.)

Das heißt also für erhebliche Teile unserer Gesellschaft: Wir beschützen unsere Kinder nicht. Unzählige Kinder, ganz egal, von wem sie gezeugt, von wem sie geboren wurden. Ich muß sowas nicht verstehen. Ich muß mich damit nicht arrangieren. Ich darf verlangen und erwarten, daß solche Mißstände unterbunden werden.

Das kann nur durch eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung gelingen und dadurch, daß nicht mehr weggesehen, daß nicht geschwiegen wird. Die Aggressoren müssen explizite Einwände hören, müssen zur Rede gestellt werden, Frauen wie Männer. Wer seine Hand hebt, sich vergreift, muß Rechenschaft ablegen.

Es kann gar keine Mühe sein, durch angemessene Aufmerksamkeit für alle Kinder einen Schuztwall zu bilden. Es kann dafür keine Ausflüchte geben, die annehmbar wären. Es interessiert mich nicht, was jemand daran für schwierig halten könnte.

Ich brauche keinerlei Weihnachtswünsche, wenn ich das nicht bekomme, diese Klarheit: Wir werden uns nach Kräften bemühen, solche Mißstände abzustellen. Sehen Sie sich bloß die winzige Krippenfigur an und stellen Sie sich vor: Da ist sonst niemand, da wird niemand kommen. Was das im realen Leben bedeuten würde, sollte völlig klar sein.

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