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Bild 'polje01a'

Der Tagtraum von Antikythera#

(Eine Skizze zu Pöllau)#

Von Martin Krusche#

Niemand braucht noch mehr vom Gleichen. Also gehe ich gemeinsam mit Fotograf Richard Mayr subjektiv und assoziierend vor, denn Ortschroniken und solide Reiseführer gibt es ohnehin. Lassen Sie mich im Blick auf Pöllau weiter ausholen und gelegentlich ein wenig verlorengehn.

Was einem heute vom Landeszentrum aus als etwas entlegener Ort erscheinen mag, war in anderen Zeiten oft eine wichtige Position auf Handelswegen, ein wirtschaftlich bedeutender Umschlagplatz, eine kulturelle Markierung von Rang. Zentren gibt es ja nur durch eine belebte Peripherie. Und manchmal, wie etwa im Verhältnis von St. Ruprecht/Raab zu Weiz und Gleisdorf, ist das ursprüngliche Zentrum einer Region zu ihren neuen Zentren in den Nachrang gekommen.

Aber man sieht an der verbliebenen Infrastruktur oft, was ein Ort gewesen ist. Allein der Bestand alter Bauwerke macht schon deutlich, daß in Pöllau eine Menge Geschichte ruht. All diese Codes. Wir sind eben von Zeichensystemen umgeben, deren Deutung spannende Momente bieten kann.

Bild 'veit'

Heftige Momente#

Besiedelung und Christianisierung stehen bei uns in engem Zusammenhang. Das offenbart sich in vielen Details. Das Wappen der Marktgemeinde Pöllau zeigt den Heiligen Veit mit brennender Lampe und Palmzweig. Die Legende besagt, diese Veit (Vitus) habe sich selbst unter Androhung großer Gewalt nicht von seinem Glauben abbringen lassen. Er sei deshalb Löwen zum Fraß vorgeworfen worden. Die zeigten sich aber überraschend zutraulich, ließen ihn unversehrt. Folglich wurde Veit in siedendes Öl geworfen.

Als Schutzpatron und Mittler zu höheren Instanzen hat dieser Heilige ein ziemlich breit angelegtes Ressort. Seine Zuständigkeit reicht von Apothekern, Gastwirten, Bierbrauern und Winzern bis zu Tollwütigen und Bettnässern. Was bei uns als sein Festtag der 15. Juni ist, wird in der Orthodoxie (nach dem gregorianischen Kalender) am 28. Juni als Veitstag gefeiert; bei den südslawischen Leuten: der Vidovdan. Es ist übrigens jener Tag, an dem serbische Kräfte im Jahr 1389 auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) eine entscheidende Schlacht gegen das osmanische Heer verloren haben.

Bild 'polje01b'

Zu diesem Stichwort gehört auf dem Balkan die „Kosovka devojka“. Das Mädchen vom Amselfeld, so der Titel eines epischen Liedes aus der serbischen Kultur, suchte auf dem Schlachtfeld seinen Verlobten und dessen Blutsbrüder, fand aber nur noch Sterbende. Das populäre Gemälde von Uroš Predić zeigt die junge Frau, wie sie einen schwer verwundeten christlichen Ritter labt. (Das Motiv gilt – wenig überraschend – als Allegorie für Europas christliche Abwehr der islamischen Kräfte.)

Wozu ich all das erwähne? Am 28. Juni 1914, dem Vidovdan der Südslawen, fielen nahe der Lateinerbrücke in Sarajevo die Schüsse auf Franz Ferdinand und seine Sofie. Gavro Princip lieferte damit einen der Vorwände für den Großen Krieg, der ja ursprünglich bloß ein regional und zeitlich begrenzter Schlag Österreichs gegen Serbien sein sollte.

So begann unser 20. Jahrhundert nach Ansicht etlicher Historiker als „das kurze Jahrhundert“ mit diesem Krieg. Es endete in Teilen ähnlich blutig. Am Vidovdan von 1989 hielt Slobodan Milošević, der damalige Präsidenten Serbiens, eine Brandrede zum 600. Jahrestag der Schlacht am Amselfeld. Das wurde zu einer Markierung für den kommenden Untergang Jugoslawiens und für uns ein brutaler Denkanstoß zum Finale des 20. Jahrhunderts.

Man mag nun staunen, weshalb ein Volk seine größte historische Niederlage als bedeutendstes nationales Fest feiert, doch wir sind nun in der ersten Hälfte von 2022 angelangt und eher damit beschäftigt, über den russischen Krieg gegen die Ukraine nachzudenken. Was nach dem Kalten Krieg erledigt schien, ist wieder da…

Maler Josef Schützenhöfer
Maler Josef Schützenhöfer

Weshalb ich so weit aushole? Nicht erst heute hat das Weltgeschehen seine Auswirkungen in jeden Winkel unseres Landes. Das Mittelalter war keineswegs „dunkel“, wie gerne behauptet wird. Das Heraufkommen unserer Leute in die Neuzeit ist dann auch an solchen Orten betrieben worden.

Es gibt diese Kontinuität in den Verknüpfungen unserer Lebensräume mit weit größeren Zusammenhängen, auch wenn sich das nicht generell im Alltagsleben aller Menschen manifestiert. Aber an manchen Institutionen einer Gesellschaft hat es seine Spuren hinterlassen; wie etwa am Stift/Schloß in Pöllau.

Das Tal, die Geschichte#

Also zurück ins Pöllauer Tal und zum Marktflecken, dessen Wappen eben jener Veit/Vitus/Sveti Vid ziert. Ein Ort, der dem Jogglland zugerechnet wird, kulturell markant geprägt. Das legt – wie schon erwähnt - den Blick auf die Geschichte Europas und auf größere Zusammenhänge nahe. Es reicht bis in die Gegenwart. Etwa durch das Atelier von Maler Josef Schützenhöfer, der zu den provokantesten Geister der Region zählt. Oder über ein spezielles Detail. Im Schloß Pöllau finden Sie „echophysic“, das Europäische Zentrum für Physikgeschichte.

Ein großes Thema, da wir nicht nur über die Newton’sche Physik, sondern auch über die vergleichsweise junge Disziplin der Quantenphysik laufend Hinweise erhalten, daß man mit der Natur nicht verhandeln kann. Zu dieser Sammlung gehört eine Replik des Mechanismus von Antikythera. (Ein Stichwort, auf das ich später noch zurückkomme.)

Aber ich mag kurz noch weiter ausholen. Der Erste Kreuzzug lag gerade eineinhalb Jahrhunderte zurück, das christliche Abendland rüttelte sich zurecht, als von Pöllau zu erfahren war. Der Zweite Kreuzzug (1147 bis 1149) brachte den Kreuzfahrern mehrere Niederlagen bei. Bald darauf wurde Pöllau urkundlich erwähnt; und zwar 1163.

Nein, das hat keinerlei kausalen Zusammenhang, sondern ist ein Stück Hintergrundfolie. Ich möchte damit bloß das Sortieren einiger Themen in der Zeit erleichtern. Europa veränderte sich also in vielerlei Hinsicht. Das strahlte stellenweise auch in entlegene Orte.

Der Mechanismus von Antikythera: Fragment A mit vierspeichigem Hauptantriebsrad (Foto: Marsyas, CC BY 2.5)
Der Mechanismus von Antikythera: Fragment A mit vierspeichigem Hauptantriebsrad (Foto: Marsyas, CC BY 2.5)

Wir haben heute eventuell keine hinreichende Vorstellung mehr, welche kulturelle und wirtschaftliche Schubkraft ein Stift in eine Region brachte. Klare Reglements, der Tagesablauf festgelegt, die konsequente Sammlung von Informationen, das Erarbeiten von Wissen, Handelsbeziehungen und Kommunikationstechniken… So ein Betrieb nahm in manchen Aspekten vorweg, was in Europa erst viel später allgemeiner wirtschaftlicher Standard wurde.

Die Kreuzzüge habe ich erwähnt, weil sie unter anderem Ausdruck einer Art ethischer Reorganisation des Rittertums waren, was bedeutet, dieser Kriegeradel wurde inhaltlich und politisch neu ausgerichtet. Ein wesentliches Kräftespiel in der Feudalzeit.

Die Chorherren#

Pöllau entwickelte sich, durch seine Lage begünstigt, zum Handwerks- und Handelsort. Hans von Neuberg verfügte im Jahr 1482 per Testament unter anderem, die Burg in Pöllau sei in ein Augustiner-Chorherrenstift umzuwidmen. Das geistliche Personal dazu kam vom nahen Chorherrenstift Vorau. Es heißt, die Jüngergemeinschaft um Jesus und die urchristlichen Gemeinden waren Vorbilder dieser Körperschaft.

„Die Augustiner-Chorherren sind keine Mönche, sondern ‚Regularkanoniker‘. Das hat einerseits damit zu tun, dass sie eine Priestergemeinschaft sind, die gegenüber einer Mönchsgemeinschaft mit vielen Laienbrüdern privilegiert war.“

Das bedeutet ferner: „Chorherrenstifte dienen also zwei Grundgedanken: Die Klöster sollen einerseits spirituelle Zentren sein. Die Tätigkeit der Ordensmitglieder soll sich andererseits nach außen auf verschiedene Formen der Seelsorge erstrecken.“ (Quelle) Daß so eine Institution überdies ökonomisch funktionieren muß, versteht sich von selbst.

Die Kolonisierung#

Es heißt, der Ortsname Pöllau bedeute „Feld“, eventuell Talmulde. Schlagen Sie in einem Slowenisch-Wörterbuch das Wort Feld oder Acker nach: Polje. (Vorhin habe ich schon das Kosovo Polje, serbisch für Amselfeld, erwähnt.) Es soll als ein Anwesen begonnen haben, von dem Brandrodung ausging, um die Urbarmachung des Terrains voranzubringen. Später entstanden in dieser Gegend zweireihige Straßendörfer.
Eine Illustration aus dem Jahr 1337 zeigt Gottfried von Bouillon beim Angriff auf Jerusalem. Er galt generell als einer der bedeutendsten Repräsentanten des Rittertums, war ein Heerführer beim Ersten Kreuzzug und der erste Regent des danach neu gegründeten Königreichs Jerusalem.
Eine Illustration aus dem Jahr 1337 zeigt Gottfried von Bouillon beim Angriff auf Jerusalem. Er galt generell als einer der bedeutendsten Repräsentanten des Rittertums, war ein Heerführer beim Ersten Kreuzzug und der erste Regent des danach neu gegründeten Königreichs Jerusalem.

Kompakt zusammengefaßt: „Als älteste Gründung muß der Markt Pöllau in der Talmulde zwischen Massenberg und Rabenwald angesprochen werden, eine Marktgründung mit schönem, rechteckigem Marktplatz; der Name ist der slawische Gegendname (1163 Polan, zu slaw. pole - polje =Feld, breite Talmulde'), der offenbar von den herumsitzenden slawischen Siedlungsresten gegeben wurde. Mittelpunkt der Siedlung war die Burg an der Stelle des aufgelassenen Augustiner-Chorherrenstiftes.“ (Fritz Posch, Siedlungsgeschichte der Oststeiermark, 1941)

Wenn man es – mit Posch – in einem größeren oststeirischen Zusammenhang betrachtet: „Nach der Darlegung dieser Siedlungsverhältnisse ist es verständlich, wenn die erste Rodung nicht im Raabgebiet einsetzte, das zwischen Gleisdorf, Kirchberg, Nestelbach und Pöllau ohnehin eine wenn auch dünne Siedlerschichte trug, sondern die menschenleeren östlichen Talböden in Angriff nahm. Damit war das menschenleere Rittscheintal, das zur Gänze im Riegersburger Herrschaftsbereich lag, als der geeignetste Kolonisationsboden im Bereiche dieser Herrschaft gegeben, da das Ilztal nur zum Teil hieher gehörte.“

Umwälzungen#

Die Oststeiermark galt lange als sehr rückständige Region, als Armenhaus. Das hat wesentlich damit zu tun, daß hier kleine Selbstversorger-Wirtschaften dominiert haben. Da produzierte man nicht für den Markt, sondern für den Eigenbedarf. Und das oft bei Betriebsgrößen zwischen sechs und elf Hektar. Ein karges Leben, in dem selbst mit größtem Fleiß kein Wohlstand erwirtschaftet werden konnte.

Obstanbau zählt zu den Ausnahmen. Derlei Sonderkulturen konnten einen Ertrag liefern, mit dem individuelle Entwicklung möglich wurde. Aber all das änderte sich wesentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg über die Mechanisierung der Landwirtschaft und andere Komponenten, die Ertragssteigerungen möglich machten.

Heute sind diese Belange ganz anders geordnet und wenn es seit 1983 den Naturpark Pöllauer Tal gibt, dann hat sich allein seit dessen Gründung die agrarische Welt längst wieder verändert…


Richard Mayrer und die Pöllauer Replik des Mechanismus von Antikythera.
Richard Mayrer und die Pöllauer Replik des Mechanismus von Antikythera.

Postskriptum#

Ich habe ein Faible für die Vorstellung „Weltgeschichte berührt Regionalgeschichte“. Das ist einer der Gründe, warum ich hier solche Querverbindungen herstelle, wie etwa zu den Kreuzzügen und zu Gottfried von Bouillon, über den es in National Geographics heißt: „One of the earliest and most representative examples of a chivalrous knight was Godfrey of Bouillon (circa 1060-1100). After the 14th century, he was included among the so-called Nine Worthies: nine men through the ages (some historical, others legendary) deemed to have embodied the ideals of chivalry.“ (Quelle)

Meine Annahmen über die Zusammenhänge zwischen innenpolitischen Problemen europäischer Herrscher, den Kreuzzügen und der ethische Reorganisation des Rittertums stützt sich vor allem auf die Arbeit von Historikern wie Georges Duby („Die Ritter“ etc.).

Besiedelung, Christianisierung, Klöster als Wirtschaftszentren und Orte des Wissenserwerbs, so auch des Know how-Transfers, ritterliche Ideale, Heldenfahrten, literarische Motive, „According to various origin stories, the Round Table was created by the magician Merlin, in imitation of the table at Christ’s Last Supper, for Uther Pendragon, Arthur’s father.“ (Alberto Reche)

Sie sehen, wenn wir - Mayr und ich - auf Pöllau blicken, dann nicht mit der Konzentration eines Tourismus-Managers, der ein spezielles Augenmerk generieren soll. Betritt man so einen Ort, der heute vielleicht von manchen Menschen als Teil von „Provinz“ betrachtet wird, übersieht man womöglich, wie klar lokales Geschehen solcher Art immer auch mit europäischen Dimensionen verknüpft war.

Wie oben erwähnt, gegenüber der thematischen Konzentration diverser Regionalmanagements befassen wir uns – komplementär - mit dem Aspekt „Weltgeschichte berührt Regionalgeschichte“. Dieses Phänomen kam ja nicht erst mit der Europäischen Union in das Leben unserer Leute. Es ist uralt, hatte seinerzeit bloß nicht vergleichbare Breitenwirkung in der Wahrnehmung der Menschen.