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Rund 200 Jahre#

(Eine Progression)#

Von Martin Krusche#

„Die Geschichte beschleunigt sich. Kaum haben wir Zeit gehabt, ein wenig älter zu werden, da ist unsere Vergangenheit bereits Geschichte, und unsere eigene individuelle Geschichte ist Bestandteil der Geschichte.“ (Ethnologe Marc Augé in „Nicht-Orte“)

Wir sind die Kinder einer enormen Erfolgsgeschichte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war das karge Leben in unserer Region, der Oststeiermark, endlich bewältigt. Breite Bevölkerungskreise durften eine Mischung aus Wohlstand, Sicherheit und Freiheit genießen, wie das in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie zuvor der Fall gewesen ist.

Das ereignete sich in einer Steiermark, die als rückständiges Gebiet galt, in welchem die Oststeiermark mit ihren hauptsächlich Selbstversorgerwirtschaften geradezu ein Armenhaus gewesen ist. Was bedeutet das? Kleine Landwirtschaften (meist sechs bis elf Hektar) waren bestenfalls geeignet, den eigenen Bedarf einer Familie zu decken. Auf deren Flächen konnten kaum Produkte für den Markt erzeugt werden. Es kam also nur sehr schwer Geld zum Haus.

Das hat sich geändert, als eine teilweise Industrialisierung der Oststeiermark für neue Jobs sorgte, in denen begabte Leute gutes Geld verdienen konnten. Das förderte die Kaufkraft für einem wachsenden Bedarf an Gütern und Dienstleistungen. Es zog tüchtige Geschäftsleute an.

Kleiner Einschub#

Ein Bauer aus Laßnitztal hatte mich einmal gefragt, ob mir der Unterschied zwischen „fleißig“ und „tüchtig“ klar sei. Ich bat um Erläuterung. „Fleißig ist jemand, der viel tut“, meinte der Bauer, „aber es muß halt auch was dabei herausschauen“.

Ab da dachte ich öfter darüber nach, was „Ertrag“ meint, auch was den Unterschied zwischen bäuerlicher und industrieller Landwirtschaft macht. Nein, das bemißt sich nicht einfach nach der Betriebsgröße, sondern wie mit Boden und Wasser umgegangen wird, mit Fragen der Nachhaltigkeit. Ertrag ist dann natürlich erst das, was bleibt,m wenn man entstanden Kosten abgezogen hat.

Ein Bauernsohn, der in seiner Familie zum ersten Akademiker wurde, erklärte mir bei anderer Gelegenheit, was „Bäuerliches Denken“ bedeutet. Ein denken über mehrere Generationen hinweg.

Innovationsschübe#

Ich rede nun von den letzten rund 200 Jahren. Erst einmal mußten die Napoleonischen Kriege bewältigt werden. Europa wurde beim Wiener Kongreß (1814/1815) neu geordnet. Im Jahr 1815 brach der indonesische Vulkan Tambora aus. Davon wurde die Atmosphäre global kontaminiert, die Sonneneinstrahlung verändert, und es kam weltweit zu Klimakatastrophen, folglich zu Mißernten.

Leistungsfähige Pferde stehen durch ihren Bedarf an Kraftfutter in direkter Nahrungskonkurrenz zum Menschen. Es kam daher zu einem ausufernden Pferdesterben, was die Wirtschaft eine Menge Traktionskraft kostete. Gehen Sie davon aus, daß solche Ereignisse dem Einfallsreichtum der Menschen und einer Mechanisierung der Wirtschaft enorme Kicks verpaßten.

Erzherzog Johann von Österreich besuchte 1815/16 Großbritannien, die damals führende Industrienation der Welt. Der steirische Prinz traf dabei unter anderem James Watt, dessen optimierte Dampfmaschinen den Lauf der Dinge änderten.

Der Dampfmaschine folgten Elektrogeneratoren/Elektromotoren, wodurch die Wirtschaft Kraftquellen erhielt, die nicht mehr so ortsgebunden waren, wie die Wasserräder an unseren Flüssen. Daß aber die Nacht zum Tag werden konnte, weil das Gaslicht von elektrischen Beleuchtungssystemen abgelöst wurde, dauerte noch ein Weilchen.

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Thomas Alva Edison setzte sich in den 1880er Jahren mit seinem Konzept der Kohlefadenlampe durch. Die Glühbirne fand rasend schnell Verbreitung. Gut, nicht bei uns in der Provinz. Aber in den großen Zentren. Die Elektrifizierung New Yorks zwischen 1881 und 1886 gilt als exemplarisch.

Zum 20. Jahrhundert#

In der agrarisch geprägten Oststeiermark wurden Fließwasser und Elektrizität erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die meisten Häuser eingeleitet. Im städtischen Raum ging sowas natürlich flotter, wie etwa in Gleisdorf, Weiz, Fürstenfeld, Feldbach… In solchen Räumen hatte stellenweise die Industrie längst Einzug gehalten und ein urbanes Leben konnte sich entwickeln.

Aber das bäuerliche Leben verschwand bei all dem natürlich nicht. Das Österreich der Spätphase der Habsburgermonarchie ist auf charakteristische Art ein industrialisierter Agrarstaat gewesen. Im Jahr 1910 waren auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich 39,5 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, 31 Prozent in Gewerbe und Industrie, 29,5 Prozent im Dienstleistungsbereich. Wir konnten kürzlich noch Menschen treffen, die das miterlebt haben.

Die Elektrifizierung der Region ist ein zentrales Ereignis im Herausbilden jenes Wohlstandes, den wir heute genießen dürfen. Wer - wie ich - in den 1950er Jahren geboren wurde, hat einen Verlauf miterlebt, der sich quer durch Österreich ähnlich ereignet war. Entsprechend des Haushaltseinkommens wurde zuerst ein Kühlschrank angeschafft. Dem folgte eine Waschmaschine. Ein Radiogerät war meist schon da, das hatten eventuell die Großeltern beigesteuert.

War genug Geld zusammengekommen, mußte vielleicht ein „Phonoschrank“ ins Haus, eine Kombination aus Radio und Plattenspieler (manche auch mit einer kleinen Hausbar). Dann stand ein TV-Gerät auf der Wunschliste. Aus dem Vierteltelefon konnte ein halber oder gar ein ganzer Anschluß werden. Ende der 1950er Jahre kostete ein Waschvollautomat etwa gleich viel wie ein neues Puch-Auto. Was uns heute als eine selbstverständliche Haushaltsausstattung erscheint, war damals zum Teil purer Luxus.

Auch Kraftfahrzeuge wurden für Leute meiner Herkunft erst nach und nach leistbar. Die breitere Volksmotorisierung mit Automobilen begann mit den 1960er Jahren. Dazu kamen Technologiesprünge wie zum Beispiel dieser: Mein erster Plattenspieler wuchs zur Stereoanlage. Dem folgte ein handlicher Kassettenrekorder, der schließlich zum Walkman miniaturisiert wurde. Aber es ging noch kleiner. Wer erinnert sich an den Typus MP3-Player? Braucht heute kein Mensch mehr, weil unsere Mobiltelefone das alles können und dabei insgesamt weit mehr Rechenkapazität haben, als die erste Mondlandefähre.

Unter Strom#

Mobil oder stationär, ohne Elektrizität läuft bei uns gar nichts. Wir müßten ohne Strom wieder zu den alten Grammophonen zurückkehren (die Apparate mit den Federwerken) und Schallplatten abspielen, sobald man das Werkel mit einer Kurbel aufgezogen hat. Oder wir machen mit Flöten, Gitarren, womit auch immer, von Hand Musik.
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Nein, nichts scheint vorerst unseren Energiehunger zu bremsen. Aber wir kennen längst jene Wellenbewegungen, in denen uns Energiekrisen erreichen. Und wir befinden uns mitten in der Vierten Industriellen Revolution. Es ist eine enorme Automatisierungswelle. Maschinen lernen von Maschinen. Dinge kommunizieren eigenständig mit Dingen. Robotersysteme arbeiten uns zu; von der Diagnostik im Spital bis zur Lagerhaltung in der nächsten Apotheke. „Künstliche Intelligenz“ hilft uns, die enormen Informationsmengen zu bearbeiten, die uns umgeben, daraus brauchbare Schlüsse zu ziehen. Ohne Strom läuft da gar nichts…

Feile(n)#

Zum Vergleich und um etwas anschaulich zu machen, wer je mit der Handsäge ein Stück Stahl von einem Barren geschnitten hat und daranging, ohne Maschine einen sauberen Würfel zu feilen, hat eine sehr sinnliche Vorstellung, was die Elektrifizierung uns an Erleichterungen gebracht hat. Versuchen Sie genau das! Stahl schneiden und feilen. Von Hand. Ohne Maschine.

Eine Stunde reicht völlig, um zu erleben, wie hart das ist. Da werden Sie freilich am Metall noch nicht viel bewirkt haben, aber Ihre Ansichten über derlei Zusammenhänge dürften dann verändert sein. Es braucht bloß eine stabilen Schraubstock und ein paar Werkzeuge. Schon erlangen Sie neue Einsichten, was eine umfassende Elektrifizierung mit all den verfügbaren Geräten an Komfort bedeutet.

Ist vieles davon im Grunde schon Geschichte? Was haben wir alles von jenen Fertigkeiten, über die bisher nur Menschen verfügten, an Maschinen und Maschinensysteme übergeben? Was von solchen Kompetenzen sollten wir allenfalls in Nischen erhalten? Worauf müssen wir als Teil der Conditio humana bestehen und sollten es nicht Automaten überlassen? Zu all dem ist eine menge Klärungsbedarf entstanden.

Postskriptum#

Dieser Text basiert auf einem Memo zu Arbeitsgesprächen mit Monika Lafer und zu Konstituierung der „Kulturspange“. Das mündet nun unter anderem in unser Vorhaben „Die Natur Mensch. Eine Annäherung.“ Damit betonen wir vorerst für das Ende 2022 einen Gleisdorfer Schwerpunkt, den wir inhaltlich in ein Spannungsfeld mit dem Vorhaben in Neudau setzen: „Der milde Leviathan“.

PPS#

Sie sehen hier unter anderem eine Lochplatte mit kleinen Haken, wie sie zu einem „Polyphon“ gehört. Das ist ein Musikautomat aus der Zeit um 1900, hergestellt von der deutschen Firma „Polyphom-Musikwerke AG“. Hierzu muß, wie bei einem Grammophon, ein Federwerk mit einer Kurbel aufgezogen werden, um die Stücke abzuspielen.
  • Fotos: Martin Krusche