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Gerechtigkeit für Jugoslawien!#

Oder: Da nippt einer an seinem Glas und brüllt „J‘acuzzi!“#

von Martin Krusche

Saša Stanišić hat eine ziemlich große Klappe. Das ist gut so. Wären die Jungen nicht so großspurig, würden wir alten Zausel ewig auf unseren eingefahrenen Ansichten sitzen und nichts käme mehr in Bewegung. Wer aber so große Töne spuckt, muß auch liefern. Ich erwarte ja nicht gleich eine Qualität, mit der Zola „J’accuse!“ rief. Aber „J‘acuzzi!“ ist mir etwas zu wenig.

Auf dem Weg nach Sarajevo. (Foto: Martin Krusche)
Auf dem Weg nach Sarajevo. (Foto: Martin Krusche)

Stanišić hat den Deutschen Buchpreis erhalten und nutzt seine Dankesrede, um eine aktuelle Empörungswelle zu surfen. Kann man machen, wenn man eine gute Kondition hat. Schon der Reden-Auftakt zeigt mir, daß wir uns grade auf dem Boulevard befinden: „Ich trage in mir 1200 Ibuprofen. Wenn Sie mir später gratulieren, halten Sie bitte so eine Spuckdistanz weg. Schilddrüsenentzündung – nicht angenehm. Ich konnte heute die Zahnpastatube nicht aufmachen,…“ (Quelle)

Der ganze Rest der Rede kommt über das Format einer Glosse nicht hinaus. Ich finde darin keinen einzigen Satz, dem ich zutraue, daß er uns in fünf oder zehn Jahren noch interessieren könnte. Stanišić sagt: „Es gab aber einen anderen Preis, der diese Konzentration gestört hat, und der etwas, eine kleine Spur wichtiger ist.“ Karl Kraus hätte wohl geantwortet: „Machen Sie sich nicht so klein, so groß sind Sie nicht!“

Sehr smart und eingängig formuliert, aber nach meiner Einschätzung kontrafaktisch, heißt es an einer Stelle: „Ich tu’s auch deswegen, weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.“ Selbstverständlich beschrieb Handke etliches, dem Stanišić entkommen ist. Wenn man seine Publikationen beachtet, findet man das auch. Muß man aber nicht. Wenn man sich mit Polemik begnügt, bleibt das unerheblich.

Moment! Was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt? So einen Kniff nennt man heute Whataboutism. Ich ziehe es dann doch vor, daß man Autoren nicht verordnet, worüber sie was zu schreiben haben. Als Schwabo hab ich so meine Vorstellungen, was zum Beispiel Reichsschrifttumskammer bedeutet. Derlei Konzept hat sich nicht bewährt.

Stanišić kam zwei Jahre vor Titos Tod auf die Welt. Er muß also nicht unbedingt wissen, was Goli Otok bedeutet. Aber er könnte es bei Milovan Djilas nachlesen. Bleiben wir also besser dabei, daß ein Dichter nicht die gleiche Arbeit macht wie ein Journalist, daß er seine Themen frei wählen darf, daß er damit nach eigener Facon verfahren soll und dabei keine Zurufe von außen braucht. So ist das ungefähr mit der Autonomie der Kunst gemeint, einem Prinzip, das bis heute noch nicht verworfen wurde.

Es spricht niemand gegen eine umfassende Kritik der Werke von Handke. Die gibt es in unzähligen Ausführungen. Aber dann bitte genau zitieren und die Kritik präzise vorbringen. Mir ist freilich klar, daß sowas auf dem belebten und zugigen Boulevard kaum zu schaffen ist. Doch wer sich aus dem Fenster hängt, muß sich eben auch etwas zutrauen.

Antwortvielfalt!#

Wenn Stanišić aus Handkes Texten nicht erfahren konnte, was es war, dem er entkam, sind ja genug andere Texte verfügbar. Man erfährt vielleicht etwas aus einem Buch von Slavenka Drakulić. Oder Dzevad Karahasan. Oder Maruša Krese. Oder Nenad Popović. Oder Muhidin Šarić. Oder Dubravka Ugrešić. Sie verstehen, was ich meine? Es ließen sich auch etliche Filme empfehlen, von „Grbavica“ (Jasmila Zbanic) bis „No Man’s Land“ (Danis Tanovic).

„Dass ich hier heute vor ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat,…“ Lustig! Und wie schon gesagt, so geht Boulevard. Welche Wirklichkeit muß man sich denn in dieser Sache aneignen? Wo wird das verhandelt? Darum hängt auch dieser Satz wie ein Fähnchen im Wind: „Das soll Literatur eigentlich nicht.“

Na, was soll denn Literatur? Und was darf sie keinesfalls? Das möchte mich interessieren. Aber diese Debatte erwarte ich mir von Stanišić gar nicht. Da weiß ich interessantere Gegenüber für die stets neu notwendigen Diskussionen. Doch vorweg eine Warnung: Wollen wir alle Werke löschen, deren Schöpferinnen und Schöpfer irgendeine Unschuld verloren, wahlweise verspielt haben, wird unser Kulturgeschichte womöglich etwas dünn. Ich ziehe jene, die ihre befleckten Seelen offen tragen, allen anderen vor, die reine Westen darüber gestülpt haben.

Ich hab hier meiner Glosse diesen Satz vorangestellt: „Gerechtigkeit für Jugoslawien!“ Ich vermisse nämlich etwas, das mich beunruhigt. Ich empfinde den Untergang Jugoslawiens, in dem Europa noch einmal alles durchgespielt hat, was wir seit dem 19. Jahrhundert ganz unübersehbar als Quelle von Demütigungen, Mißhandlungen, Morden und Massakern kennen, als eine Wunde in meiner Biographie. Nationalismus und Rassenhaß haben nicht bloß meine Eltern verunstaltet, sondern kamen so noch einmal ganz greifbar an mich heran.

Was die südslawischen Leute angeht, konnte ich davor schon bei Milovan Djilas, bei Danilo Kiš oder Aleksandar Tišma darüber Aufschluß bekommen. Bei meinen eigenen Leuten war das schwierig, zumal meine Familie vermutlich mehr Täter als Mitläufer gestellt hatte. Um im Graz der 1960er und 1970er aufzubrechen, was da noch an postfaschistischen Sedimenten Wirkung hatte, wurde das Forum Stadtpark überaus wichtig. In diesem Teil der Geschichte kommt man an Handke nicht vorbei.

Die kalte Sonne der Habsburger#

Aber nun: Jugoslawien. Das k.u.k. Österreich der Habsburger hatte vieles an Problemen und Aufgaben eines multiethnischen Staates, was wir heute für ein Europa der nahen Zukunft klären müssen. Kaiser Franz Josef war einer der unfähigsten und nutzlosesten Monarchen, von denen ich je gelesen hab. (Mir ist aus seiner auffallend langen Regentschaft kein einziger politischer Akt von erheblicher Bedeutung geläufig.) Als sich dieses Österreich die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina schnappte, war schon klar, daß unter der kalten Sonne der Habsburger die Kolonialgeschichte der Welt ein neues Kapitel erhalten sollte.

Mit welchem Zynismus das erlauchte Personal sich daranmachte, seinem Kaiser die „Europäische Türkei“ (heute: Balkan) als Beute anzudienen, illustrierte der akademisch gebildete Joseph Edler von Neupauer in seiner Denkschrift: „Viribus unitis. Wie könnte die europäische Cultur nach Bosnien verpflanzt werden?“ Hier nachzulesen: (Quelle)

Mindestens seit damals waren die Völker dieser Region nie frei von Einflüssen fremder Regime ganz Europas, um vielleicht halbwegs ungestört herauszufinden, wie sie ihre Angelegenheiten untereinander regeln möchten. Europäische Herrscherhäuser haben sich dort permanent zu exponieren und zu etablieren versucht; ohne jede Rücksicht auf die autochthonen Ethnien.

Betrachte ich nun diesen Untergang Jugoslawiens mit all seinen Grausamkeiten und Schrecken, sind für mich viele Fragen offen, die Europa betreffen, jenes Europa, das inzwischen von meiner Generation und jüngeren Leuten gestaltet wird. Jenes Europa, in dem schon wieder nicht gesichert erscheint, ob Nationalismus und Rassenhaß in Jugoslawien ihre letzten Gelegenheiten fanden, so viele Menschen unter die Erde zu bringen.

Der Untergang Jugoslawiens ist in meiner Biographie der härteste Warnruf, den ich kenne, um auf solche Dinge zu achten und in klaren Handlungen dafür zu sorgen, daß das oft ausgerufene „Nie wieder!“ auch ein reales „Nie wieder!“ ergibt. Dabei beschäftigt mich nicht, wie die Ethnien auf dem Balkan das unter sich ausmachen, sondern wie wir Nachbarn und Zaungäste damit verfahren.

Nehmen sie eine Zigarette#

Um ein markantes Beispiel herauszugreifen: Was hat es denn mit uns allen zu tun, daß der damalige Blauhelm-Kommandeur Thom Karremans (Dutchbat III) dem gelassenen Ratko Mladic offenbar eingeschüchtert gegenüberstand? Warlord Mladic hielt ihm ein Schachtel Zigaretten hin, sagte etwa: „Nehmen sie eine, es wird nicht ihre letzte sein.“ (Den Videoclip dazu finden Sie auf Youtube.)

Was hat es denn mit uns allen zu tun, daß die Soldateska von Mladic völlig unbehelligt in die Enklave Srebrenica vorrücken konnte, was schließlich nicht in wenigen Stunden erledigt war, sondern reichlich Zeit beanspruchte? Auch das Töten der tausenden Moslems aus der Enklave war zeitraubend und mit etlichem Aufwand verbunden.

Heute wäre so ganz nebenbei zu fragen: ist nicht inzwischen mitten unter uns schon wieder eine Ethnie in ihrer Sicherheit bedroht und dabei in ihrem Alltagsleben zunehmend eingeschränkt? Falls es jemand noch nicht bemerkt hat, es geht längst erneut mit Waffen gegen jüdische Menschen. Immer die gleichen Muster. Immer erst die Verrohung der Sprache, dann die ersten Waffengänge.

Das größere Thema#

Nun. Handke? Jeder seiner Fehltritte rund um den Untergang Jugoslawiens ist evident, wurde debattiert und dokumentiert. Der Autor hat sich dieser Kritik in einem Ausmaß gestellt, wie ich kein zweites Beispiel kenne. Manchmal hat er, wie jüngst wieder in Griffen, diese Konfrontation ausgeschlagen. Daß er bei all dem Kniefall und Büßer-Pose verweigert, schert mich nicht, denn darauf lege ich keinen Wert. Die komplette Handke-Kontroverse hat ihren Platz in der Geschichte Europas. Das werden wir womöglich weiter zu betrachten, zu debattieren, zu deuten haben.

Vorerst erfahre ich dazu keine Neuigkeiten, sondern bloß abgehangene Tiraden. Aber das Thema, von dem ich bewegt bin, ist weit größer, ließ bis heute eine Menge Fragen offen, kann nicht auf die Handke-Kontroverse reduziert werden.

Ich habe den Verdacht, daß zu viele unter uns sich weigern, auf dieses größere Thema einzugehen, was nämlich der Untergang Jugoslawiens für Europa bedeutet hat und was wir noch heute davon an Konsequenzen zu tragen haben. Damit meine ich nicht primäre Wirkungen dieser Kriege auf uns, also Vergangenes, sondern unser jetziges Handeln gegenüber den kriegsführenden Parteien von einst, aber auch gegenüber den Nationalisten von heute.

Vor allem meine ich auch die Frage, in welcher Weise wir, (wir = wenigstens meine Generation) dem allen mit einer Art von Verantwortung verbunden sind. Mit welchen Interessenslagen neigen wir dazu, den Untergang Jugoslawien für uns zu nutzen? Da ist es bequemer, sich weiter zehn Jahre an Handke abzuarbeiten.

Es wird, wie erwähnt, Jugoslawien nicht gerecht, wenn wir dieses Thema auf die Handke-Kontroverse reduzieren. Was Stanišić nun wohlfeil angeboten hat, werte ich als eine Ersatzhandlung, die es uns erspart, über Handke hinauszublicken und dabei auch uns selbst als Teil dieser Ereignisse zu entdecken.

Das Erbe des Untergangs#

Bosnien und Herzegowina hat derzeit viel von einem Failed State. Kosova auch. Serbien scheint auf gutem Weg dahin zu sein. Und Montenegro? Was ist dort los? Wie geht es der Demokratie in Kroatien? Europa verliert womöglich schon wieder seinen Süden, weil es ihn einmal mehr preisgegeben hat. Alles, was uns dazu einfällt, ist ein neues Aufwärmen der Handke-Kontroverse, an der ich heute keinerlei Aspekte finde, die ich nicht schon vor zehn, fünfzehn Jahren kannte?

Wenn das alles wäre, wofür Jugoslawien untergangen ist, haben wir ein sehr viel größeres Problem, als die aktuelle Empörungswelle erahnen läßt. Und das in Tagen, wo international blendend vernetzte Rechtsradikale öffentliche Diskurse prägen, was rechten Parteien zu Wahlerfolgen verhilft, was eine Brutalisierung unserer Gesellschaften voranbringt.

Und das in Tagen, da eben diese Netzwerke womöglich bald weitere Verbrecher wie den Mann von Halle ausspucken, der mit großer Geste und Live-Übertragung Menschen ermordet, um das Gewaltmonopol des Staates demonstrativ zu verhöhnen und die Fundamente einer pluralistischen Gesellschaft mit demokratischer Verfassung nach Kräften sturmreif zu schießen.

Es wird Jugoslawien nicht gerecht, wenn wir uns davon frei machen, diese Kriege der 1990er Jahre in einem gesamten europäischen Zusammenhang zu sehen, um dabei auch unsere eigenen Rollen in jenen Tagen zu überprüfen. Was ist daraus zu lernen gewesen? Um das zu klären, brauch ich Stanišić und seine Erschütterung nicht. Das wird wohl etwas komplizierter.