Trail, Protokoll #15: Hoch/Tief#
(Archipel Gleisdorf)#
von Martin KruscheIch habe es überraschend gefunden, daß sich über Gleisdorf ein kulturelles Muster legen läßt, welches – dimensionsbedingt - mit einem früheren Abschnitt der österreichischen Geschichte vielleicht nicht korreliert, aber auf jeden Fall korrespondiert.
Die Gründerzeit war eine Ära, in der ein wirtschaftlich erfolgreiches Bürgertum seinen sozialen und politischen Aufstieg gegenüber den alten Eliten durchsetzen konnte. Damit meine ich Aristokratie und hohen Klerus in der Auseinandersetzung mit nachrückenden Ständen.
Ich hatte in meinen Kindertagen noch ein Sprüchlein gelernt, das eine alte Rangordnung zusammenfaßt, die in den 1950ern längst Geschichte war. Die Hälfte davon kann ich immer noch hersagen: „Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann, Schuster, Schneider, Leinenweber, Bäcker, Kaufmann, Totengräber”.
Sie finden ein Echo dieser kulturellen und sozialen Prozesse im heute völlig veralteten Begriffs-Duo „Volkskultur/Hochkultur“. Veraltet im Sinn eines inzwischen obsoleten Versuchs, unser kulturelles Leben mit diesen beiden Begriffen zu beschreiben. (Auch das war in meinen Kindertagen noch präsent und üblich.)
Gründerzeit, Dada und Pop#
Die Gründerzeit Österreichs war bedeutend, um gegenüber der dominanten höfischen Kultur etwas völlig anderes zu etablieren. Das Fin de Siècle ist sehr anschaulich, wenn man verstehen möchte, welche Kräftespiele damals unaufhaltsam waren. Freilich lege ich Ihnen hier eine etwas polemisch verkürzte Skizze vor. Das soll ja kein Buch werden, bloß eine Notiz, die ich als Denkanstoß verstanden wissen möchte,Jener Ära des späten 19. Jahrhunderts folgten verschiedene künstlerische Strömungen, von denen ich die Russische Avantgarde und Dada besonders interessant finde. Schon da konnte das Begriffspaar „Volkskultur/Hochkultur“ offenkundig nicht mehr genügen, um die Zeichen der Zeit zu beschreiben.
Was den Vorrang der Hochkultur da angefochten hat, war keineswegs Volkskultur, bezog aber, wie etwa bei Malewitsch, gelegentlich Anregungen aus der Volkskultur. Was uns ab den 1950ern als Volkskultur angedient wurde, geriet in weiten Bereichen zu einem bildungsbürgerlich verfälschten Surrogat. Dem gegenüber mußten sich gebildete Leute dann aufraffen, die Qualitäten authentischer kultureller Äußerungen subalterner Schichten wieder freizulegen, während die Unterhaltungsindustrie alles bewirtschaftete und vermantschte, was Profit versprach.
Was dann Popularkultur und Pop Art am Lauf der Dinge bewirkt haben, füllt längst Bibliotheken. Weiters wurde in der Gegenwartskunst von Brus bis Beuys, von Export bis Lassnig, von Vostell bis Warhol, von ich weiß nicht wem alles das Kunstgeschehen auf breiter Ebene verändert, so auch das geistige Leben ganzer Gesellschaften.
Daß Bob Dylan einen Literaturnobelpreis erhalten hat, illustriert solche Prozesse und erinnert uns, daß Popularkultur und Pop längst Teil dieser Entwicklungen waren, da wurden etwa Jazz und Blues vom pädagogischen Personal meiner Kindheit noch als inferiore kulturelle Äußerungen herabgewürdigt.
Vor allem aus den Pop-Diskursen kenne ich gehabte Debatten zu den Stichworten „low and high“. Diese Diskurse sind freilich bei uns noch nicht wirklich angekommen. Überdies wurde die Volkskunde zur Ethnologie, was eine Lawine neuer Deutungen auslöste. Von jener Seite her haben sich die Vorstellungen, was „das Volk“ und „das Volkstümliche“ sowie dessen Kultur sei, völlig verändert.
Ebenso durch die Soziologie. Ferner durch die Frauenbewegungen und seitens der Arbeiterschaft mindestens ab dem Fin de Siècle, vor allem dann auf dem Weg in die Zweite Industrielle Revolution. Der Große Krieg hat ein Übriges dazu getan, Rollenbilder, Standesdünkel und kulturelle Konzepte zu verändern.
Rund 200 Jahre#
Wer demnach heute in der Beschreibung unseres geistigen Lebens mit dem Begriffsduo „Volkskultur/Hochkultur“ auskommt, hat wenigstens 40 Jahre an Debatten verschlafen und ignoriert offenbar die letzten rund 200 Jahre.Weshalb ich von rund 200 Jahren schreibe? Weil sich mit der Optimierung der Dampfmaschine mehr als bloß ein Lauf der Dinge verändert hat. Manche Städte Europas wurden zu großen Zentren der Produktion. Zahllose Menschen aus der alten agrarischen Welt zogen in die industriellen Ballungsgebiete. Damit begannen sich auch die Dienstleistungsbereiche zu verändert.
Über das breite Elend einer um Perspektiven ringenden Arbeiterschaft waren mit der Zeit bemerkenswerte Kräfte mobilisierbar, die im Bildungswesen und im kulturellen Leben neue Spuren zogen. Aber Gleisdorf?
Als der Marktflecken 1920 zur Stadt erhoben wurde, hatte das ganz wesentlich ökonomische Gründe. Rund um 1820, findet man auf alten Landkarten noch eine Art Straßendorf, das von Gärten und Feldern umgeben ist, woran etwa die langgezogene Gartengasse erinnert. Die Langäckergasse, die Mühlgasse, die Rainfeldgasse, Am Hofacker, solche Adressen sind heute Hinweise auf jene Ära der vorherrschenden bäuerlichen Welt.
Was zwischen 1820 und 1920 zur Stadt wurde, gewann zwischen 1920 und 2020 ein vollkommen verändertes geistiges Leben. Das wurde maßgeblich von einem wirtschaftlich erfolgreichen, kulturell interessierten Bürgertum geprägt. Solche Bürgerinnen und Bürger setzten ihre kulturellen wie spirituellen Interessen teilweise selbst um, teilweise in Kooperation mit inspirierten Leuten, mit Kunstschaffenden, mit vielfältigen Kräften des geistigen Lebens.
So ist das bis heute und es drückt aus, was ich mit „Gleisdorfs zweiter Gründerzeit“ meine. Die erste führte vom Markt zur Stadterhebung. Die zweite führte aus den Resten der Feudalzeit und aus ständischen Gesellschaften heraus in die Tyrannei, um dann in der Zweiten Republik eine Typus des an Bildung und Kunst interessierten Menschen erscheinen zu lassen, der das Untertanendasein zunehmend abstreift.
Das waren nun nicht mehr bloß kleine, elitäre Zirkel. Dieses Bestreben gewann in der Bevölkerung an Breite. Man könnte auch sagen: Eine Demokratisierung des geistigen Lebens. Das sind Zusammenhänge, in deren Tradition ich schon vor Jahren begonnen hab, die „Kulturspange“ zu entwickeln, wobei Geschäftsleute und Kulturschaffende das Zusammenwirken erproben. Entwicklungen, in denen heute die „Konvergenzzone“ ein Testgebiet ist und der „Archipel Gleisdorf“ entwickelt wird.
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