Der Dolch des Zoon politikon#
(Dissens könnte man ja auch schätzen)#
von Martin KruscheAbschätzigkeit hat offenbar Suchtpotential. Das Nachtreten muß etwas Lustvolles auslösen. Wie viel Raum solche Flausen bekommen, hängt natürlich vom Setting ab. Auf dem Fußballplatz gibt es dafür die rote Karte. Ausschluß. Im gepflegten Umgang von gebildeten Leuten ist das vermutlich ein Ringen um Definitionshoheit. Wer darf sagen, was es ist?
Es kann aber auch sein, daß das Erbe der Untertanen in uns so ein gelegentliches Aufbäumen auslöst; wider alle sachlichen Gründe, die ja auch zu einem Dissens führen können, an dem man sich nicht lange stoßen müßte. (Na gut, unsere Ansichten sind eben unvereinbar.)
Ich hab diesen Punkt schon mehrfach skizziert, jenen Punkt, an dem man sich von einander lösen könnte, es aber womöglich nicht kann: „Du verstehst mich nicht!“ „Doch! Ich verstehe dich, aber ich stimme dir nicht zu.“ „Nein, du verstehst mich nicht!“
Statt dem Dissens sein Recht zu lassen, dann also dieses „Was, das interessiert dich nicht? Na, das werde ich dir jetzt erklären!“ Treffender ließe sich kaum illustrieren, was Soziologe Gunnar Heinsohn mit einem Bonmot umrissen hat: „Um Brot wird gebettelt. Um Rang wird geschossen.“ Hier will, hier muß sich etwas durchsetzen. Rang. Sichtbarkeit. Referenz. Da rückt das Zoon politikon den Dolch im Hosenbund zurecht. Erst recht in telematischen Verhältnissen.
Ich habe auf meinen Websites schon vor geraumer Zeit die Kommentarleisten abgeschaltet. Es hatte davor über Jahre nie auch nur einen einzigen anregenden Kommentar gegeben.
Bloß Abschätzigkeiten, gelegentlich durchmischt mit Selbstdarstellungen von Leuten, die sich einfach auf verfügbare Trittbretter geschwungen haben, um das Publikum meiner Websites zu bespielen. (Die skurrilsten Typen in dieser Aufdringlichkeit waren serbische Nationalisten, von denen ich in Sachen Balkan belehrt wurde.)
Eine kuriose Erfahrung ergibt sich immer wieder, wenn ich Beispiele für würdelosen Umgang aus privater Korrespondenz zitiere, um Fallbeispiele zu haben, die ich nicht erst zu erfinden brauche. Selbstverständlich gebe ich dabei die Absender nicht preis, sondern nutze bloß private Beschimpfungen – anonymisiert – als authentisches Quellenmaterial.
Doch das scheint manche Menschen so aufzubringen, daß sie sich in solche Momente energisch hereinreklamieren und mit ihrem Wüten weitermachen. Nun sagt ja der Volksmund: „Wer aufzeigt, wird es wohl gewesen ein.“ Es ist also ziemlich kurios, daß sich jemand nicht einfach abwendet, sobald Verständigung vollkommen mißlungen ist, sondern weiter auf einen eindringt, inhaltlich Härtegrade zulegt. („Was, das interessiert dich nicht? Na, das werde ich dir jetzt erklären!“)
Was wären adäquate Reaktionen auf solche Verhältnisse? Message Control? (Überzeugt nicht!) In welchen Traditionen stehen wir? Auf welche Erfahrungen können wir uns stützen? Die Agora der griechischen Antike war ein überschaubarer Ort, ein Ort konkreter leiblicher Anwesenheit, somit auch ein politischer Ort. Das heißt, man mußte sich in seinem Verhalten den Reaktionen der Anwesenden stellen.
Solche Raumsituation im Politischen (als Ort einer konkreten Anwesenheit) haben wir vor sehr langer Zeit per Medien aufgebrochen. Platon ließ im „Phaidros“ Sokrates die aufkommende Schriftkultur kritisieren. Seither sind unsere Realitätsbegriffe permanent in Bewegung.
Als ich in den 1980er Jahren zum ersten Mal in einem Netzwerk online war, ahnte ich noch nicht, welchen Einfluß diese Technologie auf unser Leben nehmen könnte. In den frühen 1990ern, als das Internetprotkoll TCP/IP auch Österreich einbezog und das WWW als einer der Internetdienste zugänglich wurde, stand eine neue Netzkultur zur Debatte.
Wir sahen das optimistisch als ein Ende des alten Broadcastings, das wir im Kern als faschistisches Konzept betrachteten: Ein Sender/viele Empfänger: der Volksempfänger, die Goebbels-Schnauze. (So war Radio im Ursprung allerdings nicht gewesen.)
Nun also viele Sender/viel Empfänger. Die heimische Nezkulturszene hatte sich in den 1990ern vorgenommen, entsprechende Medienkompetenzen zu entwickeln und anzubieten. Wir waren euphorisch, weil plötzlich Medienzugänge verfügbar wurden, die nicht mehr von einzelnen Türhütern bewacht werden konnten.
Es kam aber nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt hatten, besser: es kam überhaupt nicht so, sondern ganz anders. Da liegt also noch einige Arbeit vor uns… Zum Hintergrund siehe: „Netzkultur“ (Teleworking und Telepräsenz)
(Fotos: Martin Krusche)