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Ein praktischer Arzt#

Poesie als eine Art Präzision im Unscharfen#

von Martin Krusche

Er ist Kunstliebhaber und weiß zu erzählen, durch welche Erfahrungen er zu sehen gelernt hat, wie sich dies und jenes in der Malerei mitteilt. Er ist praktischer Arzt in dritter Generation und außerdem ein versierter Notarzt. Das drückt eine spezielle Leidenschaft von Georg Kurtz aus. Diagnostik vor Ort, also bevor Gerätschaften zum Einsatz kommen, ein Labor Werte erheben konnte etc.

Ein leidenschaftlicher Diagnostiker: Georg Kurtz. (Foto: Martin Krusche)
Ein leidenschaftlicher Diagnostiker: Georg Kurtz. (Foto: Martin Krusche)

Kurtz sagt, es gehe ihm darum, rund „70 bis 80 Prozent der Arbeitsdiagnose durch das Befragen und körperlicher Untersuchung zustandezubringen“. Einen Teil der verbleibenden Quote schaffe man mit den heutigen Methoden, aber manches bleibe offen. Es komme eben vor, daß sich ein Problem nicht entdecken, diagnostizieren ließe.

Da bin ich mit einigen meiner aktuellen Fragen bei diesem Mann also richtig. Im heurigen Kunstsymposion gibt es quasi einen Raum hinter der Bühne, wo mich zwei Fragen besonders beschäftigen.

1.: Welchen Rang gestehen wir heute dem symbolischen Denken zu, das sich speziell auch in der Kunst ausdrückt, von der wir die ältesten Belege für diese Fähigkeit unserer Spezies haben? (Da ist derzeit von etwa 66.000 Jahren die Rede.)

2.: Wie klären wir das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine neu, da die Vierte Industrielle Revolution ein „Zweites Maschinenzeitalter“ eröffnet hat, wo smarte Systeme plötzlich sprunghaft mehr Dinge können, zu denen bisher nur Menschen fähig waren? (Die Conditio humana will stets neu beschrieben werden.)

Zwischen diesen beiden Fragestellungen finde ich ein Nachdenken über den Körper als primäres Medium, denke über seine Chiffren, seine Codes nach. Tanz wäre ein exponiertes Beispiel dafür, doch ich bin erst noch bei fundamentaleren Bereichen. Zum Beispiel Mimik ist ein Mittel der Kommunikation und der sozialen Interaktion. Schmerz ist eine Botschaft. Solche Dinge.

Dazu kommt meine Lieblingsannahme: Als die Pranken zu Händen wurden, konnte das Maul zum Mund werden. Damit war Sprachfähigkeit angelegt. Aber auch die raffinierte Handfertigkeit ist natürlich etwas, wovon der Geist moduliert wird. Das symbolische Denken des Menschen hat sich so eine exorbitante Spannweite an verfügbaren Codesystemen geschaffen über die wir uns ausdrücken, einander mitteilen, auch mit uns selbst kommunizieren.

Genau das ist jetzt nicht bloß ein Thema der Kunsttheorie. Wenn der Hausarzt beziehungsweise Notarzt losfährt, um jemandem beizustehen, geht es erst einmal um eine sehr komplexe Kommunikationssituation. Kurtz sagt über seine Rolle: „Ich bin da mehr diagnostisch als therapeutisch unterwegs.“ Das meint, der anstehende Kommunikationsprozeß soll möglichst viel an Klarheit erbringen, welche therapeutischen Schritte folgen müssen, um jemandes Leiden zu mildern, Heilung einzuleiten.

Auch hier spielt symbolisches Denken eine große Rolle, denn Leidende sind gewöhnlich keine Sachkundigen der Medizin, sind auch des Fachjargons nicht mächtig. Was sie mit ihren Worten beschreiben, sollte der Arzt dechiffrieren, angemessen deuten können. Das hat vielleicht etwas von Poesie, die ja nicht als Sachverhaltsdarstellung angelegt wird, sondern ganz andere Arten von Aussagen trifft.

Aber der Leib spricht ebenso, erzählt etwas. Es wäre töricht, einen Körper wir eine Maschine zu betrachten und das Leiden als Funktionsstörung zu sehen, die mit der passenden Reparaturanleitung behoben werden könnte. Auf solche Art kann man die Komplexität eines Menschen nicht bewältigen. (Seien Sie versichert, auch ein guter Automechaniker würde mit solcher Sicht und derlei Modus nicht auskommen.)

Der Körper äußert sich über Zustandsänderungen. Genießt jemand Wohlbefinden und ist weitgehende frei von Beschwerden, erlebt man eine trivialen Zustand, den wir Gesundheit nennen könnten. Walter, der Vater von Georg Kurtz, hatte mir einmal mit blitzenden Augen und lachend gesagt: „Gesund? Das heißt bloß: nicht genug untersucht.“

Ein ironischer Hinweis auf den Maschinen-Aspekt. Natürlich kann ich immer irgendwelche Abweichungen von anerkannten Normwerten finden, wenn mir das passende Instrumentarium zur Verfügung steht. Aber selbst in einer Fertigungsanlage wäre der Zwang, einer Norm genau zu entsprechen, das Ende der Produktion. Wollte man den Maschinen keinerlei Toleranzen erlauben, wären sie bald nur mehr damit beschäftigt, sich neu zu justieren, der Norm anzupassen.

So ließe sich eventuell verkürzt zusammenfassen: Der leidenschaftliche Diagnostiker ist lieber mehr Poet als Ingenieur. Dazu paßt auch, was Kurzt sein Mittel des „beobachtenden Zuwartens“ nennt. Aufgrund einer ersten Diagnose vor Ort bleiben natürlich oft ein paar Varianten offen, welches Problem vorliegen mag und das angetroffene Leiden verursacht.

Nun ist der Arzt gefordert, ausreichend viel Zeit zu geben, damit die Problemquelle offensichtlicher wird und eine treffende Therapie vorgeschlagen werden kann, ohne daß man jenen Punkt übersieht, wo aus dem Leiden akute Gefahr wird.

Um es noch einmal zu betonen: Der Körper spricht mittels Zustandsänderungen, die man lesen können sollte. Der Mensch spricht keinen Fachjargon, sondern mit seinen vertrauten Worten, die man deuten können sollte.

Sie merken schon, da zeichnen sich Parallelen zum Kunstfeld ab. Es geht etwa um Literarität, daß man ein Zeichensystem entziffern, also lesen und folglich deuten, daher verstehen kann. Lyrik funktioniert nicht wie ein Einkaufszettel. Malerei funktioniert nicht wie die Bauanleitung für ein Regal.

Poesie als eine Art Präzision im Unscharfen, um dabei auch dem Außersprachlichen genug Raum zu geben. So kann man Wahrnehmungserfahrungen machen, die völlig andere Kommunikationssituationen erlauben, als sie unsere Alltagsbewältigung braucht. Das ist eine der Kernerfahrungen im Umgang mit Kunst.

Aber wie ich am Beispiel von Georg Kurtz verdeutlichen möchte, das kann sich auch in anderen Tätigkeitsbereichen als sehr wichtig erweisen. Daran mag deutlich werden, was ich mit einem versierten Arzt zu reden hab, wenn unser heuriges Kunstsymposion dem Thema Interferenzen gewidmet ist. Siehe dazu auch: Momente am Alltagsrand (Ein Abend im Fleisch unserer Möglichkeiten)