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FRAUENKLEIDER UND MIEDER#

Mieder
Mode 1880

Die Reform der Frauenkleider bildet seit langer Zeit den Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Es gilt eine Tracht zu ersinnen, die dem künstlerischen Empfinden und Gefallen mehr entspricht, als die gegenwärtige, und auch den hygienischen Anforderungen mehr entgegen kommt, als die Modetracht. Nicht die Schneider, sondern der Künstler und der Arzt sollen die Frauentracht bestimmen. Das ist die Forderung, die in dem neuen Heft „Dokumente der Frauen“ von Schriftstellern und Ärzten erhoben wird.

Dieses Heft ist das Resultat einer Enquete, welche die genannte Zeitschrift veranstaltet hat und in welcher insbesondere ein energischer Kampf gegen das Mieder geführt wird.

Professor Alfred Roller betrachtet die Wahl einer schönen und vernünftigen Tracht als eine Frage der Erziehung. Die Reform lasse sich nicht willkürlich dekretieren; sie müsse von der Hebung des Kultur Niveaus ihren Ausgang nehmen. Professor Roller protestiert gegen die „maßlose Verlogenheit“ in der Kleidung, gegen die falschen Röcke, falschen Säume, falschen Ärmel, falschen Kragen und falschen Taschen. Er behauptet, die Frauenmode werde heute eigentlich von den großen Kurtisanen gemacht.

Freiherr von Drecoll pflichtet der Ansicht bei, dass das Mieder den schön geformten Körper nur verunstaltet, nicht verschönt. Das Miedertragen soll erst dort beginnen, wo der Körper durch mangelhafte Form der Nachhilfe des Mieders bedarf. Hier sei die sanfte Anwendung des Mieders durchaus nicht zu verurteilen. Schädlich wird es erst dann und geradezu ein Wahnsinn zu nennen, wenn Mädchen oder Frauen aus ihrer Taille ein Sport Objekt machen und, um ein Zentimeter dünner in der Schlussweite zu erscheinen, sich die Tortur eines Marterwerkzeuges auferlegen. Es ist auch der Stiefel, vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, viel weniger ästhetisch, als der nackte Fuß mit Sandale, trotzdem tragen wir den Stiefel und niemand belächelt ihn; nun gibt es aber Menschen, welche glauben, den Fuß zu verschönern, wenn sie denselben in zu enge Fußbekleidung hineinpressen; wer dieser Unsitte huldigt, missversteht den Zweck der Fußtracht vollkommen und darf sich nur selbst die damit verbundenen Qualen und üblen Folgen zuschreiben, niemals aber dem Stiefel. Solchen Missbräuchen kommt man aber mit theoretisieren nicht bei, und die Opfer ihres schlechten Geschmacks bereuen und unterlassen sie meist erst dann, wenn es zu spät ist und sie sich dadurch oft unheilbare Leiden zugezogen haben.

Hermann Bahr plädiert dafür, dass die Frau sich nicht für Fremde, sondern für ihr Heim schmücke. Daheim sein heißt für sich sein, frei sein und sich selbst gehören. Hier wirft der Mensch die Pflichten der Klasse ab und baut sich aus seinem Innern eine eigene Welt auf, über die nur er allein zu gebieten hat. Draußen herrscht das Gesetz, hier die Seele und alle Entwicklung der Menschheit will immer nur noch, ein größeres Gebiet für eines jeden Seele abgrenzen und es immer nur noch stärker gegen die Anderen beschützen. Hier ist der Ort, sich zu schmücken; denn hier soll es sich zeigen was an einem Eigenes ist, was er in, was er an sich hat, was er, nicht als Bürger, nicht als Typ, nicht als Mittel, sondern als frei als Mensch, als sein eigener Zweck zu bedeuten hat, hier spielt sich seine höchste Wahrheit ab, sein inneres Leben für welche alle Anstalten der Menschheit, der Staat, die Gesellschaft und jede Ordnung nur die äußeren Bedingungen sind. Nebenbei: Dieser große Begriff des Hauses ist der höchste von den Germanen in die Welt gebracht haben. Hier, wo sich der Mensch erfüllt, ist es an ihm, sein Festgewand anzulegen. In fünfzig Jahren wird man es kaum mehr glauben können, dass es einst anständige Frauen gab, die sich bemühten, auf Bällen, bei Festen durch ihre Tracht wildfremde Männer erotisch anzuregen und aufzureizen, während sie sich dem Gatten, von dem sie Kinder erwarten widerlich und schmutzig zeigten.

Dr. Theodor Beer erklärt jedes gewöhnliche Mieder für schädlich. Das gesunde Mädchen braucht kein Mieder. Die Kleidung soll an den Schultern aufgehängt sein. Für spezielle Fälle gibt dieser Arzt besondere Anweisungen. Dr. Joseph Breuer hält ein nicht künstlich und gewaltsam verengtes leichtes Mieder für zulässig. Professor Dr. C. Breus sagt: Vom hygienischen Standpunkt ist das Miedertragen durchaus nicht so ohne weiteres zu verwerfen wie dies nicht selten geschieht. Der Missbrauch des Mieders, das „Schnüren“, um die Taille zusammenzupressen, ist zweifellos schädlich. Der Brustkorb und einzelne Organe können dadurch deformiert werden, Atmung, Blutzirkulation und Verdauung leiden darunter.

Dr. Heinrich Charas, Chefarzt der Freiwilligen Rettungsgesellschaft, befürwortet die Beseitigung des Mieders sowohl vom hygienischen als vom ästhetischen Standpunkt und hebt hervor, dass das Mieder zahllose Ohnmachten und andere Erkrankungen verursacht.

Frauenarzt Dr. Fleischmann befürwortet eine Reform des Mieders bei den Frauen; die heranwachsenden Mädchen sollen das Mieder entbehren lernen. Universität Dozent Dr. Hajek verweist hinsichtlich der Schädlichkeit des Miedertragens auf die Ergebnisse des – Seziertisch.

Professor Krafft-Ebing sagt: „Ich halte das Miedertragen für eine der schädlichsten Unsitten der Frauenkleidung. Man braucht nur einmal eine Schnürleber auf dem Sektionstisch gesehen zu haben, um dies zu begreifen. Dass damit ausgestellte Zwecke von Frauenreizen im Spiele sind, wird glücklicherweise anständigen Damen nicht bewusst.“

Professor Schauta meint, in der Frage des Miedertragens dürfte wohl kein Arzt ein anderes als das schärfste Verdammungsurteil auszusprechen in der Lage sein, fügt aber seiner Auseinandersetzung hinzu: „Mit Vernunft ist hier nichts auszurichten.“

Bildhauer Johannes Benk erklärt als Künstler, dass er weibliche Körper nur zu oft von diesem engen Stahlpanzer und besonders durch Überschnürung sehr verunstaltet und es daher auch der Grund sein mag, dass wirklich schöne, natürlich entwickelte Frauen Körper so selten dem Auge des Künstlers begegnen und dieselbe gezwungen ist, entweder ein verkümmertes Modell nachzubilden oder dasselbe mit idealem Sinn zu verschönen.

Maler Karl Fröschl ist derselben Ansicht. Malerin Tina Blau-Lang meint: “Künstlerisch schön wird auch immer das sein, was der Gesundheit des Menschen am entsprechenden ist.“

Professor Richard Muther glaubt, dass sich bestimmte Regeln für diese Damen nicht geben lassen. Von ewiger Dauer pflegt keine Ästhetik zu sein. Nach dem Prinzip des Gegensatz, dass jede Entwicklung beherrscht wird auf die Miederlosigkeit bald wieder die Wespentaille mit den aufwattierten Hüften folgen. Das Wort der Herren im „Macbeth“: „Schön ist hässlich, hässlich ist schön“ ist dabei von tiefer Bedeutung.

Wir schließen mit diesem Auszug mit der Wiedergabe folgender Aphorismen von Peter Altenberg: „Ich halte Beweglichkeit, Elastizität des Leibes für die Quellen geistig-seelischer Potenzen. Zeige mir, wie Du gehst, Dich bewegst und ich werde ahnen, wie Du denkst und empfindest!“

Quelle: Ill. Wiener Extrablatt der ÖNB

https://austria-forum.org/af/User/Graupp Ingrid-Charlotte/FRAUENKLEIDER_UND_MIEDER