Außerhabsburgisch-österreichische Kalamitäten#
Inhaltsverzeichnis
- Außerhabsburgisch-österreichische Kalamitäten
- Ärger mit Russland
- a) Der Zarewitsch im Reich Habsburg
- b) Affäre Alexei und Konsequenzen
- Ärger mit Preußen
- a) Preußens Weg in die Moderne
- b) Heiratspolitik und weitere Entscheidungen
- c) Kongressabhaltungen als Möglichkeiten der Konfliktverhinderung
- d) Außenpolitische Ereignisse und was sie für den Kaiser bedeutenden
Ärger mit Russland#
Die Mitgestaltung Peter des Großen an der europäischen Politik war Karl VI. nicht entgangen. Nebenher erwartete sich Peter der Große von seinem Sohn Alexei von Russland nicht allzu viel, speziell an geforderten staatsmännischen Qualitäten, die der junge Thronfolger, wie dieser selbst flehentlich inständig beteuerte, aufbringen konnte. Zwischen Vater und Sohn herrschten Differenzen: Peter der Große war Europa und der Aufklärung zugetan. Alexei war, beeinflusst von seiner Mutter und der orthodoxen Kirche, gegen eine Öffnung gegen Westen. Er war von 1711 bis 1715 mit Charlotte, Tochter Herzog Ludwig Rudolfs von Braunschweig-Wolfenbüttel, vermählt gewesen und stand somit im schwägerlichen Verhältnis zu Karl VI.a) Der Zarewitsch im Reich Habsburg#
Alexei, dem staatsfeindliche Aktivitäten vorgeworfen wurden, ergriff eine günstige Gelegenheit mit seiner als Pagen verkleideten Geliebten Afrosinia nach Wien zu flüchten. Spätabend im November 1716 stand der Zarensohn vor der Hofburg. Vizekanzler Schönborn stand nun einem fragilen Problem gegenüber. Aufgrund des Hofzeremoniells wollte der Kaiser nicht einmal den Sohn eines der führendsten Herrscherhäuser Europa, Romanow, empfangen. Der Kaiser ließ sich – lieber – verleugnen, als diplomatische Verwicklungen in Kauf zu nehmen. Die Empfehlung zurückzukehren, akzeptierte der junge Romanow keinesfalls und begab sich nacheinander mehr oder weniger freiwillig in Schlössern in Niederösterreich, Tirol und Neapel. Karl VI. dachte in seiner gewohnten Verlegenheit an eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn Romanow. Offenbar spielten da Gedanken über eine Prestigeverbesserung gegenüber St. Petersburg eine gewisse unleugbare Rolle. Vor Weihnachten 1716 verlangte Peter die Zurücksendung des Zarewitschs. Der Habsburger gab sich sichtlich verblüfft. Mit österreichischer Gelassenheit erklärte der Kaiser dem Gesandten, er sei über die Anwesenheit Alexeis auf dem Boden der Monarchia Austriaca nicht orientiert. Karl VI. informierte in dieser Angelegenheit sogar Prinz Eugen und erbat sich Entscheidungshilfe. Doch der war mit der Vorbereitung zum Türkenkrieg beschäftigt. Bis dahin hatten russische Spione den Aufenthaltsort des Zarensohnes ausgekundschaftet. Jedenfalls war der Kaiser nicht imstande selbstständig aus dieser Angelegenheit zukunftsweisendes politisches Kapital zu schlagen. Karl VI. mangelte in diesen Tagen an Kreativität und an klugen Beratern. Und das in der Ära eines Prinzen Eugen! Nebenbei wusste jeder, wie unberechenbar der Romanow-Zar reagierte. Zwei interessante Möglichkeiten standen offen: Erstens: Alexei würde einmal Zar sein und dazu noch ein idealer Bündnispartner Österreichs in Europa. Zweitens: Die Auslieferung des Zarewitschs zu verweigern, was einer versteckten Geiselnahme gleichkam – eine Erpressung, um Peter dem Großen zu einer angenehmeren Haltung gegenüber dem Kaiserreich, Europa und Habsburg-Österreich zu bewegen. Aber nichts dergleichen nutzte Karl VI. und der aggressive Zar Peter reagierte schneller, gereizt und überzeugender, und zwar gebärdete er sich dermaßen, dass Österreichs Führung – Prinz Eugen maß dieser Affäre kaum Bedeutung bei – in einem Akt außenpolitischer Unfähigkeit versank. Und mit ihr resignierte Karl VI., der in seinem gepolsterten Thronstuhl zurücksank.b) Affäre Alexei und Konsequenzen#
Mit der innersten russischen Gelassenheit ärgerte sich Zar Peter der Große über den deutschen Kaiser, weil dieser unbedingt in innerste Romanow'sche Angelegenheiten mischen musste. St. Petersburg gab nicht nach.Ein unzuverlässiger Beamter der Wiener Hofkanzlei gab gegen großzügige Geldzuweisungen das Versteck des Zarensohnes preis. Um einen Skandal zu vermeiden, ordnete der Monarch an, Alexei in das Königreich Neapel, das vom Grafen Daun als Vizekönig verwaltet wurde, in das Kastell Sant' Elmo bei Neapel schaffen zu lassen. Peter der Große brachte auch diesen neuen Aufenthaltsort in Erfahrung. Peter der Große verständigte im Juli 1717 brieflich den Habsburger. Karl VI. musste sich maßregeln lassen, wurde beschuldigt, er hielte seine schützende Hand über Alexei. Der Zar verbat sich jegliche Einmischung, berief sich auf das Naturrecht und deutete eine Androhung gewisser Konsequenzen an. Karl VI., geschockt über diese Belehrungen und versteckten Drohungen Peters des Großen, tat so als ob er den Inhalt kaum verstünde und versicherte den Gesandten, er werde nach einer Phase des Überlegens entsprechend antworten. In einer Geheimkonferenz stellten alle Minister eindeutig fest, der Zarewitsch war nun ein unbequemer Gast geworden. Karl VI. fragte sich, was mit den Konsequenzen gemeint war. Was beabsichtigte der russische Bär? Vielleicht einen Einmarsch russischer Truppen aus Polen nach Schlesien und Böhmen? Dort würde die slawische Bevölkerung jedenfalls die Russen mit offenen Armen empfangen. Seit Peter der Große zwischen August dem Starken und Vertretern des polnischen Adels vermittelte, und für sich das Recht der politischen Einmischung in innere Angelegenheiten Polens vorbehielt, war der Zar ein unberechenbarer Faktor in Europa geworden. Karl VI. wusste das ganz genau und musste folglich diplomatisch vorgehen ... Noch nie stand der Habsburger vor so einem weiteren schwerwiegenden Problem. Auf der einen Seite der Krieg gegen die Osmanen und auf der anderen Seite womöglich ein feindlich gesinntes Russland. Jedenfalls verschlechterten sich inoffiziell die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Russland. Karl VI. war wirklich nicht der Mensch, der skrupellos jemanden aus Gründen der Staatsraison leichtfertig opfern würde. Dennoch musste er eine Lösung finden ... Den beiden russischen Gesandten Tolstoi und Rumjanzow wurde nach fruchtlosen Diskussionen zumindest gestattet Alexei aufzusuchen. Karl VI. befürchtete einen Mordanschlag. Tolstoi gelang Alexei zur Rückkehr ins Zarenreich zu überreden. Während Karl VI. sich über die glücklich verlaufene Schlacht bei Belgrad und die Friedensverhandlungen, welche in den Friedensschluss von Passarowitz mündeten, befriedigt zeigte, starb Alexei Petrowitsch an den Folgewirkungen der – vom Peter dem Großen gebilligten – erlittenen Folterungen im Juni 1718. Botschafter wurden zwar ausgetauscht, aber das außenpolitische Auskommen zwischen Österreich und Russland blieb unterkühlt. Dass sich der Zar 1721 zum Kaiser aller Russen ernannte, dürfte den römisch-deutschen Kaiser Karl VI. auch nicht sonderlich behagt haben – zumal das seine eigene Kaiserfunktion dementsprechend beschädigte und der Expansionsdrang der russischen Großmacht ungehemmt wucherte.
Ärger mit Preußen#
Karl VI. wagte es sich seit der Affäre "Alexei" kaum mehr in außerfamiliären Angelegenheiten als Pacificator zu intervenieren. Vielleicht versuchte er dennoch in dem Familiendrama Friedrich Wilhelm I. mit seinem Sohn Friedrich (II., der Große) eine gütliche Lösung zu finden. Der Preußenkönig ließ vor den Augen des Sohnes dessen intimsten Freund, den preußischen Offizier Hans Hermann von Katte hinrichten. Eingeweihte wussten, dass der Hohenzollern lediglich eine alte Rechnung mit der Adelsfamilie derer von Katte beglichen hatte. Nur so konnte Friedrich Wilhelm mit einer alteingesessene aufmüpfigen Adelshaus, das in Magdeburg und Umgebung Aufstände anzettelte, fertig werden.
a) Preußens Weg in die Moderne#
Prinz Eugen beobachtete – mithilfe seiner Informanten = Spione = Agenten = Diplomaten – sorgenerfüllt wie der König in Preußen Friedrich Wilhelm I., Sohn Friedrichs I., durch vorausschauende Aktivitäten bzw. Entscheidungen eine künftige [europäische] Großmacht Preußen erfolgreich vorbereitete. Prinz Eugen erkannte längst, dass in Preußen Modernismen - im Sinne der Aufklärung - eingeführt wurden und das in Habsburg-Österreich unbedingt nötig gewesen wäre. Ein mangelhaftes Lösungsmodell waren die hochadeligen Verbindungen mittels Heirat. Sie waren lediglich nur eine Notlösung und schindeten nur Zeit heraus.Es mag aus heutiger Sicht wirklich verwundern, wieso ein Kaiser Karl VI. nicht daran dachte sein Reich Habsburg genauso abzusichern und auszubauen. Starke Finanzkraft und ein gut vorbereitetes schlagkräftiges Heer. Dazu eine leicht überschaubare Monarchie ohne zu weit entfernte Teilstaaten (Niederlande u. a.), die bei erpresserischen gegnerischen Raubzügen sowieso verloren gehen könnten. Es ist wirklich verwunderlich – auch ein Prinz Eugen ordnete sich den Wünschen des Kaisers – bzw. Oberhaupt des Hauses Habsburg unter.
Staaten oder Monarchien, die sich dafür hielten, wenn sie sich nicht wie das effizient entwickelnde Preußen ausformten, drohten im Wettbewerb zwischen Wirtschaft, Außenpolitik und Militärstärke unterzugehen.
b) Heiratspolitik und weitere Entscheidungen#
Auch Prinz Eugen fand sogar eine ideale Gelegenheit Preußen(-Hohenzollern) an Österreich(-Habsburg) zu binden, indem er eine Ehe zwischen Friedrich und Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Lüneburg-Bevern, eine Nichte der Kaiserin, vorschlug und einfädelte. (Allerdings wurde diese Verbindung wegen kaum glücklich …)Prinz Eugen, Karl VI. und andere hatten in diesem preußischen Vater-Sohn-Drama interveniert. Seit damals widerfuhr dem preußischen Königssohn ein stetiger Geldmangel und fühlte sich gezwungen vom kaiserlich-österreichischen Gesandten in Berlin (nämlich) Friedrich Heinrich Reichsgraf (von) Seckendorff, Geld anzunehmen. Das konnte nur mit Billigung Karls VI. geschehen. Seckendorff stand seit 1726 in diplomatischen Diensten des Kaisers in Berlin, wo er ausgezeichnet es verstand mit Friedrich Wilhelm von Grumbkow, ein preußischer Feldmarschall, den Preußenkönig zu beeinflussen. Vor allem betraf dies die Expansionsbestrebungen Preußens nach Westen, besonders Jülich und Berg. Alles in allen also eine von Frankreich und Großbritannien-Hannover abgekehrte Außenpolitik, die in die Verträge von Wusterhausen am 12. Oktober 1726 und Berlin am 23. Dezember 1728 gipfelten. Die österreichischen Aktivitäten des Kaisers in preußische Belange erstreckten sich auch auf die Heiratspläne des Königs für seinen Sohn. Dank der unermüdlichen Arbeit Karls VI. und vorwiegend seiner Ehefrau Elisabeth Christines Einfluss wurde der junge Hohenzollerner am 11. Juni 1733 mit ihrer gleichnamigen Nichte aus der Linie Braunschweig-Lüneburg-Bevern unversehens vermählt. Somit war eine "Versöhnung" im Hause Hohenzollern durch Österreich herbeigeführt. Hinter allem verbarg sich der Plan des Kaisers eine übereinstimmende Ausgeglichenheit in Fragen der Politik zwischen Wien und Berlin zu erreichen. Aber nichts dergleichen geschah …
c) Kongressabhaltungen als Möglichkeiten der Konfliktverhinderung#
Der Kaiser, der längst begriffen hatte, dass es besser sei – wohl auch billiger sei – Gespräche über internationale Probleme und Konfliktstoffe zu unterhalten als blutige Kriege zu führen, berief bereits 1713 den "Braunschweigischen Kongress" ein, welcher bis 1721 betrieben wurde und als generelles Ziel die Beendigung der Wirren in Nordosteuropa gesetzt hatte. Außerdem hatte der Kaiser ebenso erkannt, dass Kongresse die beste Form von Konfliktlösungen darstellten. Wenigstens wurde bei solchen Zusammenkünften ein bestehendes Problem zerredet oder vom Tisch ersatzlos weggewischt. Andernfalls diskutierten die teilnehmenden Gesandten zu anstehenden Lösungsmöglichkeiten und setzten die generellen Bedingungen für zwischenstaatliche Verträge. Die Tradition der Kongressabhaltungen wurde zur immerwährenden Tradition in Österreich.Die Ideen von Friedenskongressen gingen wegen des dürftigen Erfolges und unbefriedigender dauerhafter Lösungen – geografischer und wirtschaftlicher Natur – danach, das galt für die 1730er Jahre, verloren.
Lediglich das Ziel Kongresse zur Verhinderung von Kriegen zu installieren, das wurde auch in der Epoche Karls VI. nicht erreicht.
d) Außenpolitische Ereignisse und was sie für den Kaiser bedeutenden#
Was der Kaiser auch immer tat, stets guckten über seine erhabenen Schultern – sie hatte die Monarchie als Gewicht zu tragen – die gesamte europäische Diplomatie oder zumindest die Topagenten der missgestimmten Anrainermonarchien.Inzwischen war am 1. September 1715 König Ludwig XIV. in Versailles gestorben. Als Sechsjähriger hatte er den Thron bestiegen. Der "Roi-Soleil" war mit seinen 72 Jahren das längste regierende Oberhaupt in der europäischen Geschichte. Mit dem Ableben König Ludwigs XIV. gab es das Königreich Frankreich als Bedrohung für das Habsburgerreich nicht mehr. Hoch verschuldet … Das Frankreich, das er hinterließ, so glaubte Kaiser Karl VI. und das glaubten auch die zeitgenössischen Machthaber war nun wegen seiner wirtschaftlichen und militärischen Zerrüttetsein ein ungefährlicher Staat geworden. Aber das war ein Irrtum, wie die folgenden Ereignisse zeigen.