Der Schwiegersohn aus Lothringen#
Der Imperator und sein Schwiegersohn in spe dank der Erbtochter#
Interessant ist doch auch das Faktum, dass Kaiser Karl VI. sich als römisch-antiker Imperator sah und die Möglichkeit einer Adoption eines männlichen Thronerben überhaupt bewusst übersehen hatte. Im alten Rom war Adoption durch den Kaiser nichts Ungewöhnliches … Dafür bekam er einen Schwiegersohn, dank seiner Tochter Maria Theresia.Erste Begegnung#
Nun der Kaiser lernte seinen – zweiten – zukünftigen Schwiegersohn erstmals am 10. August 1723 im Jagdrevier von Schloss Brandeis nahe Prag kennen. Damals befand sich die Kaiserfamilie auf der Reise zur Krönungsfeier in Böhmen. Karl VI. sah, dass Franz Stephan hübsch sei, gut gewachsen, ausgezeichnete Manieren aufbrachte und deutsch redete. Das war auch schon alles. Offenbar faszinierte den Kaiser der französische Akzent seines Ersatzsohnes. Einige Tage danach nahm der Kaiser den 15-Jährigen Junglothringer in den Ritterorden des Goldenen Vlieses auf. Seither sah der Kaiser in ihm nicht nur einen eifrigen Jagdgefährten – extra bei der Wildschweinjagd –, sondern als ein offizielles Familienmitglied. Dabei dürfte die alte Freundschaft des Kaisers zum Herzog Leopold von Lothringen eine große Rolle gespielt haben. Übrigens kritisierte der Herzog, sein Sohn verbrächte seine Zeit zuviel mit der Jagd anstatt der Bildung – gewiss argwöhnte er andere Interessen des jungen Burschen angesichts der an Gebüschen so reichen kaiserlichen Jagdreviere ... Und Damen gab es überall. Nun der Lothringer-Hof in Nancy (bzw. im 30 Kilometer entfernten Schloss Lunéville) galt als einer der aufgeklärtesten Höfe Europas. Möglich, dass wiederum zwei Mentalitäten in Gestalt vom jungen Franz Stephan und den irgendwie gebildeten Kaiser Karl VI. aufeinanderstießen. Wahrscheinlich hatte der Kaiser offenbar menschliche Gefühle zu dem jungen Lothringer entwickelt und konnte deshalb nicht so ohne weiteres ordentliche weitreichende Entscheidungen zustimmen. Andererseits hatte er den Burschen dank seiner Tochter in seiner Nähe. Manchmal ein zu herzliches Verhältnis wie Vater und Sohn – den er nie gehabt hatte – und andererseits das Gehaben eines liebestollen Imperators mit seinem Jungen im Dezember 1729: … mein Engl und, aus lib wan ich sagen darf, libster Sohn wider embrassiren [umarmen] zu können. Das kam einer geistigen Adoption, wie das die alten Cäsaren betrieben hatten, gleich. Schreibt da nicht ein inniger Liebhaber an den Geliebten – Maria Theresia wurde wohl eifersüchtig und tat alles um Franz Stephan von Lothringen für sich zu gewinnen. Ist ihr auch gelungen! Ich möchte dazu bewenden, dass Karl VI. an seinem Feldherren Prinz Eugen brieflich ähnlich argumentiert hatte. Der Kaiser ist vermutlich ein Rätsel auf zwei Beinen im Barock. Wohl noch im Spätsommer ließ der Herrscher den Knaben von einem leider unbekannt gebliebenen Künstler porträtieren.Rasch munkelten die europäischen Fürstenhöfe von einer Annäherung Österreichs zu Lothringen mithilfe einer Kinderheirat, die der Kaiser in die Wege leiten würde. Interessant war ja doch nur die praktische außenpolitische Komponente. Lothringen war seit dem Mittelalter wegen seiner geografischen Mittellage in Europa – zwischen Frankreich und den deutschen Fürstentümern eingepfercht, folglich stets problematisch und balancegefährdend. Karls VI. persönliche Freundschaft mit dem Herzog von Lothringen – verheiratet mit einer Halbschwester Kaiser Leopolds I. – sollte Habsburg-Österreich vergrößern helfen und das reichspolitische Gegengewicht zu Frankreich stärken und absichern. Der Habsburger lobte den Lothringerspross, beschloss zu dessen Vater die Freundschaft zu stärken und zu bekräftigen, und als Ziel die Häuser Habsburg und Lothringen anzunähern. Karls VI. Sorge galt der Gesundheit und weiteren Ausbildung des jungen Lothringers. Gegen Jahresende erhielt der Jüngling im Leopoldinischen Trakt (zwei Stockwerke im Leopoldinischen Trakt nördlich dem Schweizer Tor [Hof-/Burgtrakt]) der Wiener Hofburg eigene Gemächer und sorgfältig geprüfte Erzieher.
Heirat noch unsicher#
Möglich, dass Karl VI. die Beziehung beider Liebenden eingefädelt hatte. Aber er war noch nicht bereit seine Zustimmung dafür zu geben. Die Ursache war vorgegeben. 1725 unterhielten die Höfe von Wien und Madrid über eine Neuannäherung in Gestalt von Ehen zweier Töchter Karls VI. zwischen zwei nachgeborenen Söhnen Philipps V.: Maria Theresia (damals acht Jahre) und Maria Anna (sieben Jahre) – Ferdinand (IV., zwölf Jahre; aus erster Ehe mit Marie Luise Gabriele, der Tochter des Königs Viktor Amadeus II. von Sardinien) und Karl (III., neun Jahre; aus zweiter Ehe mit Elisabeth Farnese). Zumindest wurde in Wien ein Bündnis mit Spanien zustande gebracht, das nur vom spaniensüchtigen Kaiser im Januar 1726 ratifiziert wurde. Allerdings erwies sich das Vorhaben als unreal. Eine Entscheidung über das künftige Wohl seiner Tochter Maria Theresia, eine Heirat mit einem der Söhne der Königin Elisabeth Farnese von Spanien fiel Ende des Jahres 1728 zu Ungunsten Spaniens aus. Am Sonntag, den 5. Dezember 1728 bekam der Kaiser offiziellen Besuch aus Spanien. Im Tagebuch skizzierte er: Zwei Kurier aus Spanien kommen um Resolution wegen Teresl Heirat. Haklich [heikle Sache], wohl überlegen, ich nein. Eine Woche später: ... zur Spanien Heirat nicht mehr frei, ich auch. Am 15. rang er sich zu Überlegungen durch: Spanien antworten wegen Heirat. Einen Tag vor Silvester entschied er einen Boten mit einer abschlägigen Antwort abzuschicken: Kurier Spanien wegen Heirat. Spanien begann Geheimverhandlungen mit Großbritannien und Frankreich, die in den am 9. November 1729 abgeschlossenen "Vertrag von Sevilla" mündete. Das war ein Bruch der Wiener Verträge und nötigte den Kaiser zur Aufhebung seiner Ostindischen Handelskompagnie.
Heiratspläne und Außenpolitik#
Prinz Eugen, unverkennbar ein hochintelligenter Staatsmann mit exorbitantem Weitblick, empfahl dem Kaiser, dass dieser der [österreichischen] Staatsräson wegen, seine älteste Tochter mit einem deutschen Fürsten – entweder mit einem bayerischen Wittelsbacher oder mit einem preußischen Hohenzollern – verheirate. Damals kam Kritik aus Frankreich, das eine Vereinigung Österreichs mit Lothringen keineswegs dulden werde und aus Großbritannien die – erfüllbarere – Bedingung, dass Karl VI. seine Tochter nur mit einem rangniedrigeren Fürsten verehelichen dürfte. Der Kongress zu Soissons 1728 gab gute Gelegenheit, um die Meinungen der verschiedenen Standpunkte der unschlüssigen Vertreter auszutauschen. Die Holländer verlangten unverblümt die Auflösung der Ostindischen Handelskompagnie. Karl VI. protestierte von Wien aus über die von dritter Seite vorgetragenen Heiratspläne für seine Töchter. Hofkanzler Sinzendorf war freilich wenig Handlungsspielraum gegeben und verließ vor Ende des Jahres 1728 den Kongress.Ausgerechnet während dem besagten Kongress verstarb Karls VI. fähigster Diplomat der Freiherr Christof von Penterriedter am 20. Juli 1728. Zehn Tage später vermerkte der Kaiser in seinem Tagebuch traurig: Pentenridter in[nerhalb von] 5 tagen gestorben, sondt[er] guten, gescheidten Minister verloren.
Wir wissen allzu gut wie Väter zu ihren Töchtern nachgiebig sein können. Der Kaiser scherte sich keineswegs um die Ratschläge seiner Berater und Warnungen ausländischer Höfe und gab Maria Theresia zuliebe nach. Karl VI. meinte, diese künftige Verlobung würde das politische Gleichgewicht in Europa kaum aus der Balance bringen. Außerdem sicherte ein strenggeheimes Abkommen zwischen dem Kaiser und dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. vom 23. Dezember 1728 die Pragmatische Sanktion, und dass der Preuße sich bereit erklärte, bei einer anfallenden Kaiserwahl Karls VI. möglichen Schwiegersohn Franz Stephan von Lothringen – seine Kurfürstenstimme zu geben. Obendrein ließ sich Karl VI. durch seinen Genealogen und Historiker Pater Marquard Herrgott versichern, dass der Lothringer aus einer uralten Nebenlinie des Hauses Habsburg stamme.
1728 durfte Franz Stephan den Kaiser auf der Huldigungstour nach Graz, Triest und Fiume begleiten. Natürlich war da auch die erst elf Jahre zählende Erzherzogin Maria Theresia dabei. Ein Jahr darauf übernahm nach dem Weggang Herzog Leopolds von Lothringen als sein Nachfolger "Francois III. Stephan von Lothringen" die Herzogswürde.
Verliebte Erbtochter#
Die Zuneigung seiner Tochter zum jungen Herzog war dem Kaiser nicht entgangen. Aber er wollte sichergehen. Er schenkte ihr zu Weihnachten 1730 ein Porträt ihres Liebsten. Sie erglühte für Franz Stephan. Karl VI. sandte ihn Monate später auf eine außenpolitische Mission gemischt mit einer "Goodwill- und Kavalierstour" über Holland, – nach Großbritannien und Preußen. Vielleicht diente sie auch nur zur Prüfung des Liebesbandes zwischen der Erzherzogin und dem Lothringer-Herzog. Im Juni 1731 wurde er während seines Niederlande-Aufenthaltes (Den Haag) in die möglicherweise politisch überschätzte gegründete Freimaurer-Großloge von London aufgenommen. Vielleicht erwartete sich der Kaiser in der europäisch-internationalen Politik eine gewisse Unterstützung in der Frage der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion bzw. Erhalt der Ostindischen Handelskompagnie. Vermutlich arrangierte Franz Stephan im kaiserlichen Auftrag Bankverbindungen – vom Erfolg wurde nicht berichtet. Das Endergbnis ist sowieso bekannt.Franz Stephan von Lothringen wurde Logenmitglied, weil er wohl der nächste Kaiser sein würde – tatsächlich wurde das vorerst Karl VII.
Eine Nachbemerkung: Wenn man sich Repräsentationsporträt mit Kaiser Franz I. Stephan ansieht, so glaubt man, als ob man es mit einer Kopie Kaiser Karls VI. zu tun hat. Merkwürdig oder? Solange Maria Theresia unverheiratet war, galt sie als wertvollstes Heiratsgut in Europa. Deswegen war ihr Vater Karl VI. auf die Bewahrung ihrer Ehre erpicht. Seit 1. Januar 1734 stand es für die bald 17-jährige Maria Theresia unumstößlich fest, Franz Stephan zu heiraten. Karls VI. langmütige Geduld versagte angesichts solcher weiblichen Standfestigkeit.
Konflikt zwischen Vater und Tochter#
Das Verhältnis zwischen Kaiser Karl VI. und seiner Tochter Erzherzogin Maria Theresia war in der Mitte der 1730er Jahren ziemlich beeinträchtig, wenn nicht ordentlich beschädigt erschienen. Das Ganze war ein Kampf zwischen einen Herrscher und einer sprunghaften, pubertierenden Göre. Die erwähnte Heiratspolitik des Hauses Habsburg – angerissen durch Prinz Eugen und energisch betrieben von Karl VI. – betrachtete sie mit einer gehörigen Portion an Argwohn. Sie liebte den Lothringer. Auch das konnte der Kaiser sehen. Ebenso sah das ganz Europa. Das Leben am Hofe Karls VI. wurde nicht nur von Gott beobachtet, sondern auch von übereifrigen Agenten. Ein britischer Gesandter namens Sir Thomas 1st Baron Grantham Robinson war irgendwie Zeuge dieses gespannte Verhältnis gewesen. Im Sommer 1735 kritisierte die über Achtzehnjährige ihren tugendhaften Vater als Verwalter der Länder, die sie dereinst mal erben könnte. Robinson berichtete an die britische Regierung am 5. Juli 1735: Sie bewundert die Tugenden des Kaisers, aber sie tadelt sein Benehmen und sieht ihn fast als Verwalter ihrer Länder an, welche sie dereinst besitzen wird. Die höchste Alterserwartung damals lag auch in den Herrscherhäusern sowieso gegen 40 bis 50 Jahre. Karl VI. stand im fünfzigsten Lebensjahr – Leopold I., welcher 65 Jahre wurde, war die große Ausnahme in der Familie Habsburg. Was auch die innere Ursache dieser Vater-Tochter-Krise sein mochte, das bleibt dahingestellt – aber die außenpolitischen Pläne schienen ihr nie und nimmer behagt zu haben. Maria Theresia hatte ihre Mutter Kaiserin Elisabeth Christine stets geachtet – aber nach dem Tod Karls VI. ließ sie das Schloss Hetzendorf ehest zum Witwensitz herrichten – anders betrachtet hatte Maria Theresia aus machtpolitischen Interessen die Kaiserin abgeschoben …