Der zehnte Juli#
(Verstrickungen)#
Von Martin Krusche#
(Vorlauf) Ich ordne grad Gedanken und Details, wie sie sich in den letzten Tagen verdichtet haben. Beuys als ein Angelpunkt für einige Drehbewegungen, die ausreichende Zentrifugalkraft ergeben, daß Überlegungen hervorquellen, die nicht nach Beuys-Verehrung riechen. Weshalb ich das betone? Weil seine Wirkung und sein Rang, wie sie unter anderem seine düsteren Seiten bedecken, inzwischen längst zu allerhand Andachtsübungen genutzt werden, die ersetzen, was man als Reaktion auf ihn leisten könnte.
Nein, mir liegt nichts daran jemanden zu belehren. Ich spüre nicht einmal den Hauch jenes Sendungsbewußtseins, das ihn einst angetrieben hat. Aber ich bin ein Kontext-Junkie. Und freilich hat Beuys allerhand hervorgebracht, das auch an mir als Anregung hängenblieb. Aber vorweg: Während ich diese Zeilen schreibe, dämmert der 10. Juli herauf.
An jenem Sommertag im Jahr 1995 begannen die serbischen Angriffe auf die Enklave Srebrenica. In der Folge zeigte sich ein umfassendes Versagen der UN und eine Schande Europas angesichts einer wütenden serbischen Soldateska, die abertausende Zivilpersonen massakriert hat.
Kurzgefaßt#
Am 9.7.1995 rückten serbische Verbände auf die Stadt vor. Am 10.7.1995 wurde Srebrenica mit Granaten beschossen. Bosnische Leute flohen in Richtung der UN-Basis im Vorort Potocari. Am 11.7.1995 überflogen Nato-Flugzeuge gegen 6:00 Uhr morgens Srebrenica. Da ein Angriffsbefehl des UN-Kommandanten General Bernard Janvier ausblieb, drehten sie ab und kehrten Richtung Italien zurück. Die darauf folgenden Ereignisse hat Jasmila Zbanic 2020 in ihrem Film „Quo vadis, Aida?“ thematisiert.Verstrickungen#
Hier tut sich für mich eine Verknüpfung mit Beuys auf, weil er ein Versehrter war, ein Gezeichneter, darin ein zwiespältiger Charakter; und zwar auf eine Art, die mir von meinen Leuten her vertraut ist. Da geht es um die Doppelbödigkeit derer, wenn sie aus den alten Verstrickungen nicht herauskamen. Ich halte es ohnehin für nicht machbar, das abzuschütteln, was einen durchwirkt hat, wenn man im Herz der Finsternis gewesen war.Mich hat das nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte beschäftigt, da ich aus einer gewalttätigen Welt komme, welche in diesen Zusammenhängen wurzelt. Wenn man als Kind in die Konsequenzen solcher Ereignisse eingesponnen wird, fehlen einem erst einmal jegliche Mittel und Möglichkeiten, dieses Geschehen zu dechiffrieren. Und es fehlt einem die Macht, Übergriffe abzustellen.
Das Symbolische#
Selbstverständlich war Beuys in all diese Zusammenhänge verstrickt, die teils plump und offenkundig, teils aber auch sehr subtil in die Stoffe unseres Alltags verwoben waren. Ich erinnere mich an meine Teenagerzeit, als ein Buchtitel, der sich auf die Waffen SS bezog, das Thema zusammenfaßte: „Wenn alle Brüder schweigen“. Das korrespondiert mit einem Lied, welches auf einem Text des Max von Schenkendorf beruht: „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu“. Der „Turnvater Jahn“ wußte das Motiv zu nutzen. Später wurde es bei der SS zum „Treuelied“ adaptiert.Es läßt sich sagen, als Volksschulkind war ich intellektuell endlich hinreichend gerüstet, um schon einmal zu erahnen, daß ich hier mit Zusammenhängen konfrontiert und belastet wurde, die es nicht geben dürfte. Daher sind es inzwischen rund 60 Jahre, während derer ich mich mit all dem befaßt habe. Und eigentlich fand ich erst kürzlich diesen einen Satz, der als Antwort darauf unbedingt trifft: Wer ein Leben nimmt, ist verloren. (Die Konsequenzen laufen stets aus dem Ruder.)
Interlude#
Solchen Zusammenhängen war auch meine Zeit.Raum-Episode XIII: "Mai acht" (Mein Banzai Baby und das Drumherum) gewidmet. Das Grundmotiv: An jenem 8. Mai 1945 war der Faschismus meiner Leute zwar militärisch geschlagen, aber nicht ideologisch. (Link)Die Dämonen#
Verstehen Sie mich recht, ich habe kein Interesse an einem Tribunal und keine derartigen Aufgaben. Zivilisation, das bedeutet: wir konnten Institutionen schaffen und Reglements formulieren, wie mit all dem zu verfahren ist. Wir haben an jene Menschen Mandate vergeben, die das zu bearbeiten haben. Kein Scherbengericht! Das Prinzip lautet unverhandelbar: Recht statt Rache.Mich interessieren die persönlichen, die individuellen Optionen, wenn man in Gewalttaten verwickelt wurde, wenn man von den Waffen, von den Systemen der Gewalttätigkeit versehrt wurde. Das war meinem Vater beschieden, war meinen Leuten auferlegt. (Manche unter ihnen haben sich nicht als Mitläufer, sondern als Täter hervorgetan.)
Eine der Konsequenzen war jene Gewalttätigkeit in der Sprache und im Zupacken, die auch meine Kindheit durchzog, die bewirkt, daß man aus dieser Verstrickung heraus mit Dämonen lebt. Die lassen sich nicht abschütteln. Aber man kann sein eigenes Dasein transformieren. Genau darin treffe ich mich mit Beuys. Genau darin bin ich aber auch darauf angewiesen, heute im Einvernehmen mit inspirierten Menschen an relevanten Themen zu arbeiten, Rätsel zu klären, Aufgaben zu bewältigen…
Das ist für mich der wesentliche Kontext dieser Gleisdorfer Beuys-Situation. Darin liegt für mich ein wichtiges Angebot in jenem Akzent, den Gleisdorfs Kulturreferent Karl Bauer gesetzt hat, indem er die Ausstellung „Joseph Beuys – 101“ (Museum im Rathaus) herbeiführte.
Partizipation statt Konsumation#
Damit mag auch anschaulich werden, was ich meine, wenn ich bezüglich der regionalen Wissens- und Kulturarbeit betone, der Fokus möge sich stärker von der Konsumation zur Partizipation verschieben.Meine bisherigen Notizen, wie ich sie in der Leiste „Beuys 101“ bündle, zeigen Ihnen, daß ich schon mit einer Reihe sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten im Einvernehmen bin. Das ist jetzt eine Phase der Verständigung. Es gibt keine Notwendigkeit, augenblicklich ein bestimmtes Ziel vorzugeben, womöglich Aufgaben zu verteilen. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Projekt, schon gar nicht ein Repräsentationsakt. Es ist ein Kommunikationsprozeß…
- Alle Fotos: Martin Krusche
- Die Vernissage: Erweiterte Kunstbegriffe (Zur 2022er Ausstellung in Gleisdorf)
- Beuys 101 (Eine Erzählung in Momenten und Episoden)
- Fortsetzung