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Kuratorium für triviale Mythen#

(Oder: Wir haben eine Situation!)#

von Martin Krusche

Was sich da in der Praxis der Kulturinitiativen Kunst Ost und Kultur.at während der letzten Jahre als ein Themenschwerpunkt herauskristallisiert hat, dieser Aspekt trivialer Mythen, ergab sich aus der gleichzeitigen Befassung mit drei Genres: Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst. Das ist eine Entwicklung im Langzeitprojekt The Long Distance Howl, welches für den Zeitraum 2003 bis 2023 angelegt wurde und im Kern einen konkreten Lebensraum zum Ausgangspunkt hat, in dessen Kulturgeschehen diese drei Genres vorkommen, gelegentlich ineinander geraten.

Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Martin Krusche
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Martin Krusche

Das hat Ursprünge des Arbeitsansatzes stellenweise in der Nachkriegszeit, im Klima jener Tage, als Österreich einen brutalen kulturellen Kahlschlag überwinden mußte, den die Anhängerschaft Hitlers und deren Mitläufer in bloß wenigen Jahren realisiert hatten.In meinen Kindertagen war es noch üblich, mit großer Geste zwischen Hochkultur und Volkskultur zu unterscheiden. Dabei fanden viele Menschen beunruhigend oder gar störend, was in der Kunst als „modern“ markiert werden mußte, womit nicht etwa „Die Moderne“ gemeint war, sondern junge, zeitgenössische Arbeiten, vor allem in Malerei, Musik und Literatur.

Bei der Musik unterschied man damals vorzugsweise zwischen E und U, also zwischen Ernst und Unterhaltung. Schlager waren okay, Pop und Rock galten vielen Erwachsenen als Ausdruck von „Kulturschande“. Wer erinnert sich nicht an den merkwürdigen Kulturauftrag, mit dem man die „Echte Volksmusik“ zum emotionalen Rettungsprogramm für die österreichische Identität erklärte, während die „Volkstümliche Musik“ gerne als „volksdümmlich“ denunziert wurde?

In all dem kam seinerzeit kaum eine Reflexion dessen vor, was die Unterhaltungsindustrie tat, um eine Massenkultur zu bewirtschaften, die mit Freizeit und Geld unterfüttert war, die es so vor unserer Zeit nicht gegeben hat. Da war es dann irgendwie konsequent, daß ich als Volksschüler mit energischen Schritten gegen „Schmutz und Schund“ zurechtkommen mußte, was sich vorerst noch nicht auf Gewaltverherrlichung oder Pornographie bezog, schon gar nicht auf Stoffe aus der Nazi-Ära, wie etwa die populären „Landser-Hefte“, sondern auf Comic-Hefte.

Bernd Kober, der Erfinder des „Altbaukriterium“ und Mitbegründer des Kuratoriums – (Foto: Martin Krusche)
Bernd Kober, der Erfinder des „Altbaukriterium“ und Mitbegründer des Kuratoriums – (Foto: Martin Krusche)

Mir mußte man die Liebe zu Büchern nicht einbläuen, die hatte ich selbst gefunden. Aber daß man mir die sogenannten Schundheftln wegnahm, manchmal Comichefte sogar demonstrativ vor meiner Nase zerriß, hat mich damals sehr betrübt. Solche Aktionen kamen gelegentlich von Menschen, die Readers Digest abonniert hatten.

Die Ironie ihrer Haltung fiel ihnen nicht auf. Sie kehrten mit jener Anmaßung auch unter den Tisch, daß viele Millionen von Menschen Europas sich Literarität, also die Fähigkeit, Text zu lesen und zu verstehen, nicht über die Werke von Goethe geholt haben, sondern über die Lektüre von Fortsetzungsromanen in Zeitschriften und von Groschenheften.

In diesem Klima eines Österreich, das dank seiner geopolitischen Lage eine Menge materielle und immaterielle Hilfe von außen bekam, um die Verfehlungen und Verbrechen aus der Nazi-Zeit samt deren enormen Konsequenzen hinter sich zu lassen, waren die aggressive Intellektuellenfeindlichkeit jener Ära und die Auffassungen von „Entarteter Kunst“ noch sehr lebendig.

Ich blieb also völlig auf mich gestellt, um als Proletenkind Andy Warhol kurios zu finden, aber den phänomenalen Zeichner hinter den populären Siebdrucken lange nicht zu entdecken, dabei über Duchamp ins Grübeln zu kommen und Beuys kaum zu verstehen, vor John Cage völlig ratlos zu verharren. Zugleich konnte ich in der Massenkultur schwimmen wie ein Fisch und mich an den gängigen Vorstellungen von Volkskultur reiben.

Erst in einer wachsenden Begeisterung für Sozialgeschichte bekam all das für mich andere Kontraste, konnte ich die Berührungspunkte der verschiedenen Felder entdecken und mich an Formen des Wechselspiels zwischen den verschiedenen Genres freuen.

Am 3. Dezember 2009 wurde die Gründung des Kuratorium für triviale Mythen notiert. Das rankte sich damals um Themenstellungen wie „Materie, Energie, Information“ oder „Vom Mythos zum Fetisch zur Kunst". Die erste Aktion widmeten wir ironisch dem Thema „Eßbarer Unfug“. Dazu hatte Bernd Kober, der Schöpfer des „Altbaukriterium“, einige markante Keksformen gebaut.

Ida Kreutzer bei der ersten Aktion des Kuratoriums – (Foto: Martin Krusche)
Ida Kreutzer bei der ersten Aktion des Kuratoriums – (Foto: Martin Krusche)
Ein Scheinwerfer und ein Kolben mit Pleuel flankieren das Logo des historischen V8 Ford, darunter ein Ford Model A – (Foto: Martin Krusche)
Ein Scheinwerfer und ein Kolben mit Pleuel flankieren das Logo des historischen V8 Ford, darunter ein Ford Model A – (Foto: Martin Krusche)
Der „eßbare Unfug“ als ironische Hommage an die V8-Szene– (Foto: Martin Krusche)
Der „eßbare Unfug“ als ironische Hommage an die V8-Szene– (Foto: Martin Krusche)
Kober, ein leidenschaftlicher Fixie-Fahrer[1], dessen Altbaukriterium (Radrennen in Altbauwohnungen und Betriebsstätten) inzwischen durch halb Europa geführt haben, schuf aus Stahlbändern die Formen zu einigen motorischen V8-Mythen. Experimentalbäckerin Ida Kreutzer, eine versierte Kunsthandwerkerin, setzte das um. Zu unseren Aktionen, in denen wir verschiedene Ideen praktisch ausloteten, kamen kleine Publikationen.
Radrennen in bewohnten Räumen oder an Arbeitsplätzen – (Foto: Martin Krusche)
Radrennen in bewohnten Räumen oder an Arbeitsplätzen – (Foto: Martin Krusche)
Das Irritierende als Denkanstoß, manchmal sanft gepolstert – (Foto: Martin Krusche)
Das Irritierende als Denkanstoß, manchmal sanft gepolstert – (Foto: Martin Krusche)

Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Mobilitätsgeschichte… Über die Jahre hat das Kuratorium nicht nur zu laufenden Kunstprojekten eine Postkarten-Edition entfaltet. Es kristalliert sich ebenso eine schlanke Schriftenreihe heraus, die nun verdichtet werden soll. In einer Mischung von realen Druckwerken und rein elektronischen Publikationen wird diese Reihe derzeit im Austria-Forum verankert.

Die Bändchen haben in der Regel Bezug zu laufenden Projekten und beziehen sich, wie eingangs erwähnt, auf die drei Genres Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst. Beim augenblicklichen Stand der Vorhaben hat diese Schriftenreihe drei Themenschwerpunkte, zu denen demnächst weitere Publikationen verfügbar sein werden:

  • Sozial- und Technologiegeschichte
  • Gegenwartskunst und Popkultur
  • Wissens- und Kulturarbeit
  • Zu den Publikationen (Übersicht)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Alfredo Barsuglia – (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Alfredo Barsuglia – (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Michaela Knittelfelder-Lang– (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Michaela Knittelfelder-Lang– (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Milan Mijalkovic – (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Milan Mijalkovic – (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Jörg Vogeltanz – (Foto: Martin Krusche)
Kuratoriums-Kunstpostkarte mit Motiv von Jörg Vogeltanz – (Foto: Martin Krusche)

[1] Post Scriptum:
Den Begriff Fixie-Fahrer sollte ich wohl erläutern. Fixie steht für Fixed Gear. Damit bezeichnet man Fahrräder ohne Freilaufnabe. Das bedeutet, Hinterrad und Tretkurbel sind fix verbunden, woraus folgt, daß die Pedale permanent mit dem rollenden Rad rotieren. Das entspricht einer historisch sehr frühen Bauweise, von der zum Beispiel Altmeister Johann Puch zuerst nicht abgehen wollte. Er hat sich seinerzeit offen gegen die Freilaufnaben ausgesprochen, doch diese Einstellung bald revidiert.