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Helga Maria Wolf

Gefühlte Zeit#

Foto: H.M. Wolf

Um die Jahreswende beginnt man, über die Zeit nachzudenken. Vor Weihnachten wird sie den meisten zu kurz. Der Kalender der "gefühlten Zeit" scheint durcheinander geraten zu sein.

"Alles hat seine Zeit," wußte der Gelehrte Kohelet schon im 3. vorchristlichen Jahrhundert, unter anderem: "eine Zeit für die Klage und eine Zeit zum Tanz." Frohe und besinnliche Jahresfeste betonen wichtige Daten. Wer in seinem Überleben von der Natur abhängig ist, beobachtet (und feiert) den Wechsel der Jahreszeiten. Tag- und Nachtgleichen (Äquinoktien) um den 21. März und 23. September und Solstitien - um den 21. Juni und 21. Dezember, wenn sich das Verhältnis von Tag und Nacht umkehrt - sind markante Termine. Zu den naturgegebenen kommen seit mehr als 1500 Jahren kirchliche Feiertage. In der bäuerlichen Lebenswelt wurden sie wichtigen weltlichen Rechtstermine für Pacht, Zins und Dienstbotenwechsel. Als Lostage sollten sie Vorzeichen auf die Ernte oder das persönliche Leben geben. Wendezeiten wie um Neujahr schienen für Orakel besonders geeignet.

Aristoteles und der Weihnachtsfestkreis

Nachdem im 4. Jahrhundert das Christentum von einer verfolgten Sekte zur Staatsreligion aufgestiegen war, begannen die Theologen, das Heilsgeschehen historisierend zu entfalten. Dabei gingen sie von Ostern aus, und konstruierten nach dessen Vorbild den Weihnachtsfestkreis. Jedem der Feste ging eine mehrwöchige Buß- und Fastenzeit voraus. In dieser "geschlossenen Zeit“ waren feierliche Trauungen und Tanz verboten. Der „rosa Sonntag“ Laetare findet sein Gegenstück im 3. Adventsonntag Gaudete. Zu Ostern feiern die Gläubigen das Triduum (Karfreitag, Karsamstag, Ostersonntag), zu Weihnachten drei Messen. In der Osternacht, wie in der Christmette, besingen sie die Heilige Nacht. Beiden Hochfesten folgen eine Oktav (Weißer Sonntag - Neujahr), eine Festzeit (sieben bzw. zwei Wochen) und ein Schlussfest (Pfingsten - früher Maria Lichtmess).

Interessant sind dabei die Parallen sich zum "Aristotelischen Spannungsbogen". Der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) war der einflussreichste seines Faches - ohne seine Theorien wäre z.B. die mittelalterliche Scholastik nicht möglich gewesen. Heutige Filme folgen seinem Spannungsbogen genau so wie die antiken Tragödien. Er besteht aus verschiedenen Punkten in drei Hauptteilen: Ansteigende Handlung, Höhepunkt und fallende Handlung. Zunächst gilt es, Interesse und Aufmerksamkeit zu erwecken und zur Grundidee der Handlung hinzuführen. Im Weihnachtsfestkreis geschieht das mit dem Beginn des Advents, der als Fastenzeit begangen wurde. Man kannte lange Zeit in den verschiedenen Diözesen einen Advent von vier, fünf oder sechs Wochen. In Tours (Frankreich), wo der Heilige Martin (317-397) Bischof war, setzte einer seiner Nachfolger ein Jahrhundert nach seinem Tod den Martinstag als Beginn des Advents fest. An solchen Zeitenwenden stehen üblicherweise Schwellenfeste. Am 11. November durfte vor der Fastenzeit noch einmal ordentlich gegessen werden. Martinigans und Weintaufe sind bekannte Bräuche. Die "römische Lösung" von vier Wochen setzte sich um die erste Jahrtausendwende durch. Auch das Geburtsfest Christi wurde - in Anlehnung an die Ostkirche - regional nicht am 24. Dezember, sondern am 6. Jänner (Epiphanie) gefeiert.

Aristoteles setzte in die Mitte seiner ansteigenden Handlung ein wichtiges Ereignis. Am Beginn des Weihnachtsfestkreises findet ehrt man wichtige Heilige wie Barbara, Nikolaus oder Lucia. Der dritte Adventsonntag Gaudete bringt Freude in die Fastenzeit. Aus Vorfreude auf das Kommen des Herrn tragen die Priester rosa Messgewänder. Die helle Farbe, die sich später bei der dritten Adventkerze findet, verdrängt das ernste Violett der Buße. Die Handlung führt nun weiter zum Höhepunkt - dem Weihnachtstag, der nach antiker Sitte am Vorabend, dem Heiligen Abend beginnt. Das Christfest steht nicht allein im Kalender, es folgt ihm eine liturgische Festwoche (Oktav). Der Oktavtag fällt auf den bürgerlichen Neujahrstag. Nachdem die Römer seit 46 v. Chr. den 1. Jänner zu Ehren des zweigesichtigen Gottes Janus feierten, legte die Kirche als Antibrauch ein Marienfest auf diesen Tag. Während der Festwoche steht seit eine Reihe von Heiligen, die das Ehrengefolge des Christkindes (Comites Christi) bilden, im Kalender: der Erzmärtyrer Stephanus am 26., der Apostel Johannes am 27. und die Unschuldigen Kinder am 28. Dezember.

Die verlorene Nachfreuzeit

Mit dem Oktavtag ist der Weihnachtsfestkreis nicht vollendet. Es fehlt noch die fallende Handlung mit dem Ausklang. Wichtige Feste in dieser Zeit sind Epiphanie, der Dreikönigstag am 6. Jänner, und das Fest "Taufe des Herrn" am folgenden Sonntag. Am 40. Tag nach Weihnachten, am 2. Februar, steht "Darstellung des Herrn" im Kalender. Es erinnert an das Gebot der Israeliten, wonach ein erstgeborener Knabe als Eigentum Gottes mit einem Geldopfer ausgelöst werden musste. Die Mutter galt 40 Tage als "unrein" und übergab dem Priester Tiere als "Sündopfer". Diesen Vorschriften entsprechend, brachten Maria und Josef Jesus zum Tempel. Das Fest, das im 5. Jahrhundert mit einer Lichterprozession ausgezeichnet wurde, hieß lange Zeit "Maria Lichtmess". Es war Brauch, nun den Christbaum abzuräumen und die Krippen einzupacken. Jetzt stehen sie nur noch von Weihnachten bis "Taufe des Herrn" in den Kirchen.

Von Spannungsbogen oder Festkreis merkt man kaum mehr etwas. Die Entwicklung führte zum "Weihnachtsquartal", wobei der Lebkuchen zum Schulbeginn in die Supermarktregale einzieht. Mitte November eröffnen die Christkindlmärkte, in Wien wird der Weihnachtsbaum vor dem Rathaus traditionell um den 15. November in einer Feierstunde erstmals illuminiert. Wenigstens die Beleuchtung der Einkaufsstraßen beginnt erst mit dem 1. Advent, doch das fällt in der Fülle der Dekorationen kaum noch ins Gewicht. Weihnachten ist schnell gefeiert. Der Christkindlmarkt verwandelt sich flugs in den Silvestermarkt. Viele von denen, die keine Weihnachtsflüchtigen waren, brechen gleich nach dem Fest in den Urlaub auf. Daheimgebliebene stürzen sich in den Ausverkauf oder Umtauschaktivitäten.

Alle Jahre wieder häufen sich im Oktober/November Artikel und Leserzuschriften in den Tageszeitungen, die das Weihnachtsquartal beklagen. Aber kaum jemand merkt, dass der klug durchdachten dramaturgischen Kurve die zweite Hälfte fehlt. Kinobesucher wären sehr verärgert, würde man ihnen nur den halben Film zeigen. Der evangelische Theologe und Diplompsychologe Hans Gerhard Behringer aus Nürnberg ist ein Verfechter der "Nachfreuzeit". Er meint, man solle sich so lange über ein Ereignis (z.B. eine bestandene Prüfung) freuen, wie man sich darauf vorbereitet hat. Die Dramaturgie der Festkreise nennt er Vorbereitung / Ouverture - Höhepunkt / Freudenzeit - Nachfreuzeit / Ausschwingen. Es wäre eine Untersuchung wert, welchen Einfluss der Ausklang, der keinem fehlt, weil er nicht bewusst ist, auf das Unbehagen über die Phasenverschiebung ausübt. Alles hat nicht nur seine Zeit, sondern braucht sie auch - besonders die Bräuche.

Ein Beitrag der Serie BRAUCHbares in: Schaufenster Volkskultur


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