Anderl von Rinn #
Nach einer Ritualmordlegende aus dem 17. Jahrhundert war Andreas Oxner ein dreijähriger Knabe aus Rinn bei Innsbruck (Tirol) der - angeblich am 12. Juli 1462 - von seinem Taufpaten an durchreisende Juden verkauft und von diesen geschächtet worden sei. Die Mutter, Witwe eines Taglöhners, habe währenddessen auf dem Feld gearbeitet. Nachdem sie durch ein "Blutwunder" den Mord geahnt habe, habe sie den Leichnam an einer Birke über einem Felsblock hängend gefunden. Sie habe ihr Kind bestatten lassen, worauf sich am Grab Wunder ereignet haben sollen. Der Pate sei in Wahnsinn verfallen, die erhaltene Geldsumme habe sich in welkes Laub verwandelt.
Antisemitische Ritualmordlegenden wurden vom 12. bis ins 20. Jahrhundert in ganz Europa erfunden. Seit dem 15. Jahrhundert fanden mehr als 400 Ritualmordprozesse mit 39 namentlich bekannten "volkskanonisierten" Opfern statt. Zum Musterfall wurde 1475 Simon von Trient. Nach dessen Vorbild dichtete der aus Trient stammende, in Hall in Tirol tätige Arzt Hippolyt Guarinoni am Beginn des 17. Jahrhunderts die Anderl-Legende. Dabei berief er sich auf Mitteilungen der Bevölkerung von Rinn und bemühte sich um beweiskräftige Details, jedoch sind alle Namen und Daten spekulativ. Die auf ein ländliches Publikum der Barockzeit zugeschnittene Legende wurde vom Autor eifrig verbreitet. Bald fand er von kirchlicher Seite Unterstützung, wie bei den Chorherren des Stiftes Wilten, in dessen Archiv sich die Handschrift befindet.
1621 fand in Hall (Tirol) das erste Anderl-Spiel im Stil des lateinischen Jesuitentheaters statt, um die Jahrhundertmitte gab es deutsche Fassungen in Art des Volksschauspiels. 1642 wurde eine gereimte Fassung gedruckt und die Kirche "Judenstein" in Rinn den Unschuldigen Kindern und Anderl von Rinn geweiht. Ein Jahrhundert später (1744) stellte man die angeblichen Reliquien feierlich auf dem Hochaltar auf. In der Kirche befindet sich ein je ca. 3 m langer, breiter und hoher Felsblock aus Gneis, ein eiszeitlicher Restling. Auf diesem gruppierte man um 1766 eine hölzerne Figurengruppe des angeblichen Geschehens. 1753 approbierte die römische Ritenkongregation den Kult für die Diözese Brixen. Bis ins 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Bilder und Statuen des Anderl an den Häusern der Umgebung angebracht und ihm zu Ehren Feiertage begangen.
Erste Kritik an den antisemitischen Äußerungen der traditionellen "Volksfrömmigkeit" kam um 1900 von einem Historiker, einem evangelischen Theologen und dem damaligen Innsbrucker Rabbiner. Dieser wandte sich an den Papst, doch kurz vor dem Ersten Weltkrieg scheiterte der erste "Kultsistierungsversuch" (Fresacher). Die Nationalsozialisten forcierten die Anderl-Geschichte, machten sie zum Unterrichtsstoff und veröffentlichten sie im "Stürmer". 1989 beendete der Innsbrucker Diözesanbischof Reinhold Stecher (1921-2013) den Kult um das vermeintliche Märtyrerkind. Die umgestaltete Kirche wurde neu eröffnet und geweiht. Sie erhielt das Patrozinium "Mariä Heimsuchung". Das Hochaltarbild und Teile der barocken Deckenfresken wurden durch marianische Darstellungen ersetzt, auf den Stein kam eine Ölberggruppe. Der bewust versöhnlichen Feier der Kultrevision waren heftige Kontroversen mit einer Gruppe traditionalistischer Anderl-Verehrer vorausgegangen.
Quelle:
Bernhard Fresacher: Anderl von Rinn. Innsbruck 1998