Das Meer steigt, die Hoffnung sinkt #
Der globale Meeresspiegelanstieg ist Realität. Er bedroht tief liegende Südseenationen.#
Von der Wiener Zeitung (26. März 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Sabine Ertl
Anote Tong hatte einen Traum. Er wollte die Menschheit wachrütteln. "Das Schicksal von Kiribati ist auch das Schicksal der Welt", lautete seine Botschaft. So pilgerte der frühere Staatschef und Präsident zu hochrangigen Politikern, sprach auf internationalen Konferenzen, trat in TV-Sendungen auf, schrieb Fachartikel, ließ seine Mission im preisgekrönten Film "Anote’s Ark" verewigen, nur um der Welt begreiflich zu machen, dass das Südsee-Paradies sinkt. Tongs Weckruf: "Ich habe versucht, der internationalen Gemeinschaft mitzuteilen, dass wir ein Problem haben. Es ist ein kleiner Teil der größeren Herausforderung des Klimawandels, aber unser Fall ist unmittelbarer."
Ein ganzes Jahrzehnt bemühte er sich also um Gehör für die Notlage seiner Heimat. Isoliert von den Problemen der westlichen Welt, sind die I-Kiribati (Einwohner von Kiribati) nicht nur direkt betroffen, sondern gehören unverschuldeterweise zu den frühen Opfern der Folgen des Klimawandels. Ein Teil der 129.000 Einwohner wird zu den ersten Klimaflüchtlingen zählen, die in die Geschichte eingehen werden. Kiribati ist nur für 0,6 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Im Vergleich dazu war im Jahr 2021 China mit 31 Prozent führend, gefolgt von den USA mit 13 Prozent. Für diese Klimaungerechtigkeit zahlt Kiribati einen hohen Preis: Das drohende Desaster spült Atolle und Riffinseln weg und lässt unberührte Sandstrände, glitzernde Salzwasserebenen und wehende Palmen für immer verschwinden.
Das Zeitfenster schließt sich allmählich. Vielleicht sind es nur noch 30 oder 40 Jahre, bis eine große Anzahl der insgesamt 33 Atolle, die sich auf einer Fläche von rund 5,2 Millionen Quadratkilometern verteilen, unbewohnbar wird. Noch werden Ernstszenarien diskutiert, unter der Annahme, dass das Wasser um unaufhaltsame 3,2 Millimeter pro Jahr ansteigt. "Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist der mittlere Meeresspiegel um rund 20 Zentimeter gestiegen", sagt Klimaforscher Alexander Nauels im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Beraters im Rahmen der UN-Klimakonvention ist die Klima- und Meeresspiegel-Modellierung.
Nauels schätzt die Situation folgendermaßen ein: "Der Anstieg hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich beschleunigt. Jener für die pazifischen Inseln liegt dabei über dem globalen Durchschnitt, teilweise mit lokalen Raten, die den globalen Trend um ein Vielfaches übersteigen. So wurde im westlichen Pazifik allein seit 1990 ein Plus von bis zu 30 Zentimetern verzeichnet." Nur kurzfristig helfen die verzweifelten Versuche der I-Kiribati, ihre Heimat zu schützen, egal ob mit Sandsäcken, Korallenbauten, Geflechten aus Treibholz oder neugepflanzten Mangrovenbäumen. In Wahrheit können sie wenig gegen das Wasser und die Sturmfluten ausrichten.
Die Bevölkerung wird im Endeffekt vor den extremen klimatischen Bedingungen flüchten und die Inseln verlassen müssen. Doch wohin soll sie? Durch die geografische Nähe bieten sich Neuseeland oder Fidschi an. Dort hat Tong auch vorsorglich Land gekauft. Doch für die gesamte Bevölkerung wird der Platz nicht reichen. Die schlechte Nachricht: Auch für Fidschi stehen die Vorzeichen nicht gut, auch Teile dieses Eilands sind gefährdet. Was Neuseeland betrifft: Bisher gibt es nur das offizielle Angebot, pro Jahr 75 Menschen aufzunehmen.
Es gibt kein Entkommen#
"Die Inseln haben keine Rückzugsräume", sagt Ben Marzeion, Klimaforscher an der Universität Bremen und Professor am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, im "Wiener Zeitung"-Interview. "Es gibt keine Möglichkeit, innerhalb des Landes zu entkommen. Das Wasser kann irgendwann nicht mehr abfließen, und Menschen können sich nicht hinter einem Deich einmauern." Schließlich sei es ja so, dass der Meeresspiegelanstieg fast überall zuschlagen werde. Gerade was die Inseln betreffe, sei die Situation objektiv schlimm.
Neben den I-Kiribatis kämpfen aber auch die Fidschianer, die Dhivehis (Bewohner der Malediven), die Salomoner, die Polynesier und Mikronesier sowie die Melanesier gegen die Zeit. Zu jenen Inseln weltweit, die unmittelbar vom Verschwinden bedroht sind, gehören neben Kiribati, Tuvalu und Vanuatu die Fidschis, die Salomonen, die Malediven, Palau, Mikronesien, die Seychellen, die Cook-Inseln, Französisch-Polynesien, die Tangier-Insel in Virginia, die Marschall Inseln und das Shishmaref-Eiland in Alaska. Besonders betroffen, also direkt gefährdet sind die sogenannten SIDS (Small Island Developing States), die kleinen Inselentwicklungsländer. Sie alle sind besonders verwundbar und ökologisch sehr empfindlich.
"Die Zunahme von Überflutungsereignissen kann bis hin zum völligen Untergang von Atollen und tiefliegenden Inseln führen. Änderungen in Extremwetterereignissen, beispielsweise eine Intensivierung tropischer Wirbelstürme, ein Wandel von natürlichen Klimaschwankungen, wie dem Phänomen El Niño, aber auch das Absinken von Küstenland aufgrund von Grundwasserentnahme gehören zu den Faktoren, die Überflutungsrisiken verstärken", sagt Klimaforscher Nauels. Dazu kommen Bodenversalzung, daraus resultierende Ernteausfälle und Schäden an der Vegetation oder auch das Risiko einer zunehmenden Ausbreitung von Krankheiten wie Malaria.
Das Phänomen gefährdet auch den Zugang zu Wasser, Nahrung und Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig kann das Eindringen von Salzwasser Arbeitsplätze und Volkswirtschaften in Branchen wie Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus dezimieren und lebenswichtige Infrastrukturen wie Transportsysteme, Krankenhäuser und Schulen beschädigen oder zerstören. Fest steht, dass jede bedrohte Inselgruppe aufgrund ihrer Topografie und Beschaffenheit, Besonderheiten und Eigenschaften anders ist. In Kiribati etwa gehen Kokospalmen und ihre Früchte verloren. Also fällt dann nicht nur die Einnahmequelle weg, sondern auch die tägliche Nahrung.
Die deutlich zunehmende Gefährdung der kleinen Inselstaaten wurde vom Weltklimarat mit aller Deutlichkeit bestätigt. Auch bei der UNO ist die Hiobsbotschaft sehr wohl angekommen. Erst Mitte Februar wurde die Problematik des Meeresspiegelanstiegs aufgegriffen. Generalsekretär António Guterres erklärte: "Die Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs schaffen bereits neue Ursachen für Instabilität und Konflikte." Ein Massenexodus ganzer Bevölkerungen in biblischem Ausmaß stehe bevor sowie ein verschärfter Wettbewerb um Süßwasser, Land und andere Ressourcen. Auch er hob hervor, dass etwa der Meeresspiegel an den Küsten von Kiribati, Tuvalu und Vanuatu bereits dreimal so schnell angestiegen ist wie im weltweiten Durchschnitt, und warnte davor, dass in den kommenden Jahrzehnten niedrig gelegene Gemeinden - und ganze Länder - für immer verschwinden könnten.
Verschwundene Inseln#
Bei jedem Temperaturanstiegsszenario sind Länder von Bangladesch über China und Indien bis zu den Niederlanden gefährdet. Megastädte auf allen Kontinenten werden ernsthaften Konsequenzen ausgesetzt sein, darunter Lagos, Bangkok, Mumbai, Shanghai, London, Buenos Aires, New York und Jakarta. Die Gefahr ist besonders akut für etwa 900 Millionen Menschen, die in Küstengebieten in niedrigen Lagen leben - das betrifft jeden zehnten Menschen auf der Erde. "Man muss sich beim Meeresspiegelanstieg immer im Klaren sein, dass das ein ganz langfristiger Prozess ist", sagt Marzeion. Man müsse sich endlich mit der Frage beschäftigen, "wann endlich gehandelt wird, und nicht, ob etwas passiert".
Schon 1999 wurde in einem Bericht der UNO festgehalten, dass die unbewohnten Inseln Abanuea und Tebua Tarawa versunken sind. Beide gehörten zu den Gilbert-Inseln in der Republik Kiribati, Tebua Tarawa diente als Ladeplatz für Fischer. Auch Tebunginako in der Region wurde geflutet, an einer neuen Stelle aber wieder aufgebaut. 2018 hat der Hurikan Walaka die hawaiianische Insel East Island überschwemmt, sie wurde geradezu vom Ozean verschluckt. Einige Monate davor verschwand die Perlamutrovy-Insel in der Arktis. Sie ist einfach verschwunden, niemand weiß genau, warum. Sie hatte etwa 1,5 Kilometer Durchmesser und war von einem Gletscher bedeckt. Nicht auffindbar ist auch das winzige Eiland Esanbe Hanakita Kojima vor der Küste der japanischen Nordinsel Hokkaido.
Der Klimawandel formt nach und nach Küstengebiete neu: 2018 erreichte eine Studie von Paul Kench aus Auckland nach der Auswertung von Satellitendaten große mediale Aufmerksamkeit. Die Ergebnisse werden nach wie vor diskutiert. Kench behauptete, dass Tuvalu weder schrumpfe oder untergehen werde, sondern sogar gewachsen sei. Auch habe der Klimawandel, so Kench, keinerlei Auswirkung auf die Beschaffenheit der Inseln. Die Lobbyistengruppe Advance Australia griff diese Aussagen auf und behauptete im Jahr 2021 Ähnliches.
In einem Faktencheck als Antwort auf diese Ausführungen meinte Andrea Dutton, Professorin für Geologie in Wisconsin, dass die Fläche einer Insel kein wirksames Maß dafür sei, ob die Insel untergehe oder bewohnbar bleibe, was letztendlich die Sorge der Bewohner und Politiker sei. "Die Inselgröße kann sich unabhängig vom Meeresspiegel verändern", so Dutton. Mit einer frei zugänglichen Online-Plattform des Weltklimarats, dem "IPCC Interactive Atlas", lassen sich die Veränderungen des Meeresspiegels von Region zu Region global erkunden. Sie hat auch den Zweck, den Ernst der Lage aufzuzeigen.
Wie eben auch in Tuvalu: Der aus neun Inseln im Pazifischen Ozean bestehende Staat liegt zwischen Hawaii und Australien. Derzeit stehen rund 40 Prozent des Hauptstadtdistrikts bei Flut regelmäßig unter Wasser. Es wird vorhergesagt, dass die gesamte Nation bis zum Ende des Jahrhunderts überschwemmt sein wird. Entsprechend offensiv war der Vorstoß der Inselnation auf der Klimakonferenz COP27 in Sharm El-Sheikh. Man verlangte einen historisch anmutenden Vertrag: "Tuvalu hat sich Vanuatu und anderen Nationen angeschlossen und fordert einen Vertrag über die Nichtverbreitung fossiler Brennstoffe, um unser Entwicklungsmodell auf erneuerbare Energien und einen gerechten Übergang weg von fossilen Brennstoffen zu lenken", stellte Premier Kausea Natano klar. Die Sucht und Gier der Welt nach Öl, Gas und Kohle dürfe "unsere Träume nicht einfach unter den Wellen versenken".
Kniehoch im Wasser#
Schon ein Jahr davor auf der Klimakonferenz in Glasgow hatte sich der Außenminister von Tuvalu, Simon Kofe, medienwirksam gezeigt. Kniehoch im Wasser stehend, in Anzug und Krawatte an einem im Meer aufgestellten Rednerpult, um nichts anderes zu sagen als: "Wir sinken - und wir werden nicht tatenlos zusehen, wie das Wasser um uns herum steigt." Zudem übt sich Tuvalu in aktivem Handeln: Mit modernster Technologie werden die zahlreichen kleineren Inseln vermessen, um Daten zur Landhöhe zu sammeln. Damit wird Klarheit über den tatsächlichen Anstieg des Meeresspiegels gewonnen.
Fidschi, ein möglicher Ausweichstaat für die I-Kribati, hat sich innovativen, naturbasierten Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels zugewandt. Von der Wiederherstellung von Mangrovensümpfen bis zum Bau natürlicher Ufermauern werden naturbasierte Lösungen nicht nur den Gemeinden, sondern auch der Umwelt helfen. All dies ist Teil des ehrgeizigen Klimaschutzgesetzes von Fidschi, das 2021 in Kraft getreten ist. Darin steht, dass es wichtig ist, die Kraft der Natur zu nutzen, um Klimalösungen zu schaffen, anstatt künstliche Infrastruktur zu bauen. Auch Vanuatu ist als CO2-negatives Land ein Musterschüler. Mit Start September 2022 soll bis 2030 die Wirtschaft zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Überaus kämpferisch gibt sich der Inselstaat Melanesien mit seinen 83 Inselgruppen und Einzelinseln, die sich über eine Länge von 1.300 Kilometern erstrecken. Die Melanesier nutzen jede, wenn auch nur begrenzte Ressource zur Bewältigung der immer wiederkehrenden Wetterkatastrophen. Erst Ende Februar kam es zu einem heftigen Sturm in der Südsee: Der Zyklon "Judy" brachte zerstörerische Winde und extrem starken Regen.
Musterschüler Vanuatu#
Auf internationalem Parkett zählt Vanuatu zu einem der ersten Entwicklungsländer, die das Projekt "Loss and Damage" angehen. Das Land hat detaillierte Angaben dazu gemacht, wie die Kosten berechnet werden sollen. "Nun muss der Fonds tatsächlich aufgesetzt und geklärt werden, wie die Gelder ausgeschüttet werden", sagt Nauels. Grundsätzlich müssen die Etablierung eines solchen Finanzinstruments und die entsprechende Entscheidung bei der COP27 als historischer Erfolg für die AOSIS-Staaten (Allianz kleiner Inselstaaten) und andere vulnerable Nationen gesehen werden. Die Umsetzung wird Thema der 28. Klimakonferenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Wie dringlich es ist, war deutlich aus den Worten des Klimaministers des Inselstaats Vanuatu, Ralph Regenvanu, zu hören: "Wir haben keine Zeit mehr, kein Geld mehr und auch keine Geduld mehr." Der pazifische Inselstaat hat daher den Internationalen Gerichtshof ersucht, eine Einschätzung zum Recht auf Schutz vor negativen Klimaauswirkungen abzugeben. Es wäre möglich, dass ein Gutachten des höchsten Gerichts der Welt eine moralische Autorität und rechtliches Gewicht haben und die Forderungen nach Entschädigung armer Nationen stützen könnte. Diese ehrgeizigen Ziele der betroffenen Inselnationen sind nicht nur ein Indiz von Widerstand, sondern ein Symbol von Eigeninitiative. Diese ganz besondere Eigenschaft teilen viele andere in der Region. Denn es geht schlichtweg um ihre Existenz.
Klimaforscher sind sich in ihrer Bewertung der Zukunft recht einig. "Die Menschheit hat es tatsächlich noch in der Hand", meint Marzeion, "wenn sie sich zusammenrauft und den Treibhausgasausstoß deutlich verringert. Dann haben wir die Möglichkeit, langfristig den Meeresspiegelanstieg zu verringern." Schließlich treffen wir heute als Gesellschaft eine Entscheidung, die den Weg nachfolgender Generationen in den nächsten Jahrhunderten prägen wird. "Die Botschaft sollte sein, dass noch nicht alles verloren ist." Ähnlich argumentiert Nauels: "Die neuesten Zahlen des Weltklimarats zeigen deutlich, dass noch extrem wichtige Schadensbegrenzung betrieben werden kann. Es geht vor allem darum, wertvolle Zeit zu gewinnen."
Der Kampf gegen den Klimawandel bleibt ein weltumspannendes Problem. Wie eben auch auf Kiribati. Symbolhaft ist es das einzige Land der Welt, das wirklich in den vier Ecken der Erde liegt: Sein Staatsgebiet befindet sich auf der nördlichen und auf der südlichen Halbkugel sowie östlich und westlich der internationalen Datumsgrenze. Ex-Präsident Tong träumte von einem globalen Schulterschluss. Noch ist nicht festgeschrieben, wie dieser Traum endet. Im schlimmsten Fall wird Kiribati als einer der ersten Dominosteine nicht sprichwörtlich fallen, sondern untergehen.
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