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Steigen, schwitzen, staunen: Ötzi schauen #

Vor 25 Jahren wurde seine Gletscherleiche entdeckt: Der „Mann aus dem Eis“ starb in der Jungsteinzeit – und ist heute der am besten untersuchte Patient der Welt. In seiner Vergangenheit findet sich überraschend viel Gegenwart: unterwegs am alpinen „Ötzi-Trek“. #


Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 1. September 2016)

Von

Wolfgang Machreich


Ötzi hautnah. Seit 1998 ist die mumifizierte Leiche im Südtiroler Archäologie-Museum in Bozen zu besichtigen. Im „Archeo- Park“, einem Museum im Schnalstal, wird das Leben in der Jungsteinzeit nachgelebt., Foto: APA/Parigger
Ötzi hautnah. Seit 1998 ist die mumifizierte Leiche im Südtiroler Archäologie-Museum in Bozen zu besichtigen. Im „Archeo- Park“, einem Museum im Schnalstal, wird das Leben in der Jungsteinzeit nachgelebt.
Foto: APA/Parigger

Ötzi hatte eine Dose aus Birkenrinde mit. In dem Gefäß beförderte er in Ahornblätter eingewickelte glühende Holzkohlestücke – damit er leichter und schneller als mit Feuerstein und Zunderschwamm ein wärmendes Feuer entfachen konnte. Regen und kalter Wind lassen mich an dieses Ötzi-Feuerzeug denken. Ich bin in seiner Spur unterwegs. Gestartet am Vernagter Stausee im Südtiroler Schnalstal möchte ich hinauf zur Ötzi-Fundstelle auf 3210 Meter Meereshöhe und auf der anderen Seite hinunter nach Vent im Nordtiroler Ötztal. Gut 2800 Höhenmeter Aufund Abstieg in den Fußstapfen des „Mannes vom Similaun“ liegen vor mir, denn so wie ihm versperrt auch mir der Alpenbogen den Weg von Süd nach Nord.

Das Ehepaar vor mir dreht um. Das Wetter wird heute nichts mehr, sagen sie. Stimmt, aber im Unterschied zu unserem Vorgänger in der Kupfersteinzeit haben wir Anthropozän-Wanderer mit der Similaunhütte eine komfortable Marscherleichterung am Weg. Umsonst, ich kann sie nicht zum Weitergehen überreden. Ein neuerlicher Schauer und der Wind, der nicht nachlässt, überzeugen mehr. Ich stapfe weiter, allein. Das stimmt nicht ganz, meine Gedanken an den „Mann aus dem Eis“ begleiten mich. Der gleichmäßige Trott und die trübe Sicht verleiten sowieso zum Sinnieren.

Die letzte Mahlzeit#

Sicher hat er auch geschwitzt, denke ich mir. Und Durst, so wie mich, hat ihn auf seiner Tour wahrscheinlich ebenfalls gequält. Eigenartig, dass man unter seinen Gerätschaften keine Wasserflasche gefunden hat, aber Bächlein rinnen in der Gegend ja genug. 1,60 Meter groß war er, 50 Kilogramm schwer und mit Schuhgröße 38 stieg er den Berg hinauf. Das hat die Wissenschaft in 25 Jahren Ötzi-Forschung herausgefunden. Und dass der Mann braune Augen, braune Haare und Blutgruppe 0 hatte. Ich bin ein wenig größer und unter meine Haare mischt sich zusehends Grau – sonst könnten wir Brüder sein. Er 46 Jahre alt, ich ein Jahr älter, auch das verbindet. So wie die Wehwehchen, wobei der Zahn der Zeit sehr viel schwerer an Bruder Ötzi genagt hat.

Ötzi ist mittlerweile der am besten untersuchte Patient der Welt: DNA-Analysen, Stereolithografie, CT- und endoskopische Untersuchungen machen ihn zum gläsernen Menschen und haben eine lange Leidenslitanei zutage gefördert: Karies, Parodontitis, Borreliose, Laktoseintoleranz, Gallensteine, Arterienverkalkung, Würmer und ein genetisches Risiko für Herz- Kreislauf-Erkrankungen etc. Die Untersuchungen seines Fingernagels ergaben, dass Ötzis Immunsystem in den Monaten vor seinem Tod starken Stresssituationen ausgesetzt war. Ein verheilter Serienrippenbruch, ein Nasenbeinbruch, ein vermutlich unfallbedingt abgestorbener Frontzahn sowie Erfrierungen an der linken Zehe deuten für mich darauf hin, dass er schon vor seinem Tod am Berg im alpinen Gelände unterwegs gewesen und abgestürzt ist. Bis auf die erfrorene Zehe könnten diese Verletzungen aber auch von einem Raufhandel stammen.

Mumifizierte Leiche im Südtiroler Archäologie-Museum
Mumifizierte Leiche im Südtiroler Archäologie-Museum
Foto: APA/Parigger

Ich fahre mit der Zunge über mein Zahnimplantat und greife mir an meine ebenfalls vor langer Zeit gebrochene Nase – was die Wissenschaft wohl über mich herausfinden würde, sollte ich mich für 5300 Jahre unters Eis verabschieden? Doch da wächst die Similaunhütte vor mir aus dem Nebel, und ich verdrücke mich bloß in die Gaststube und beschließe dem Wetterbericht zu vertrauen, der beste Bedingungen für den nächsten Tag ankündigt. Zum Abendessen serviert die Hüttenwirtin „Schöpsernes“, sprich Deftiges vom Schaf. Ötzi hatte kurz vor seinem Tod Steinbock- und Hirschfleisch, Brot und Gemüse gegessen. Das Hirschfleisch war offenbar nicht mehr ganz frisch, denn es enthielt eine Fliegenmade, die Forscher im Darm der Mumie fanden.

Indizien aus dem Magen#

Mit Ötzis Magenbakterien gelang es Forschern, dessen Ahnenreihe zu rekonstruieren. Das Erbgut seiner „Helicobacter pylori“-Magenbakterien gleicht Populationen, die sich bis heute in indischen Menschenmägen ungut bemerkbar machen. Das legt den Schluss nahe, dass Ötzis Vorfahren aus Asien in die Alpen eingewandert sind. Die Magenbakterien stützen zudem jene Theorien, wonach frühe Einwanderer aus Asien – deren Urahnen freilich ebenso aus der afrikanischen Wiege der Menschheit stammten – bei der Besiedelung Europas eine zentrale Rolle gespielt haben. So hilfreich besagte Mikroben für die heutige Forschung sind, so übel haben sie Ötzi mitgespielt. Ihn quälte chronisches Bauchweh, denn der Helicobacter-Typ fördert Magengeschwüre. Der strahlende Sonnenschein am nächsten Tag vertreibt meine hypochondrischen Neigungen und andere düstere Gedanken. Die Morgensonne rückt das Bergpanorama ins beste Licht. Schön war sicher auch schon vor 5300 Jahren schön! Und rutschiger, noch vom Schlechtwetter des Vortags vereister Fels war zu allen Zeiten immer schon ein Grund, beim Steigen besonders aufzupassen.

Ötzis Schuhwerk ließ aber für Touren im hochalpinen Gelände nichts zu wünschen übrig: Der Innenschuh war mit Heu zur optimalen Isolierung ausgestopft, der Außenschuh aus Hirsch- und Bärenleder gearbeitet und mit Riemen quer über der Sohle rutschfest gemacht.

Ein paar Tage vor meiner Tour bin ich im „ArcheoParc Schnalstal“ in ein rekonstruiertes Paar dieser Bergpantoffel geschlüpft: warm und komfortabel, das Tragegefühl erinnert an Heutreten, bei Regen und Schnee ist mir aber meine Goretex-Ausführung mit Gelbpunktsohle lieber. „ArcheoParc“- Besucher können sich auch beim Bogenschießen und Feuermachen versuchen, Garderobe im Fashion- Style Kupfersteinzeit anprobieren und mit der Original-Ötzi-Bärenfellmütze fürs Foto posieren. Alles lustig, alles sehr heutig und dennoch: Wer die Zeit des Indianerspielens im Wald noch nicht ganz vergessen oder sich einmal aufs Zelten ohne Deluxe-Equipment eingelassen hat, dem wird der Mann aus dem Eis und seine Zeit gar nicht so weit weg vorkommen. Der Gedanke ist mir bereits im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen bei meinem Blick durchs Guckloch auf die Mumie gekommen: Ecce homo!

Ötzi hautnah
Ötzi hautnah
Foto: APA/Parigger

Der Fluch des Flüchtens#

Das Berührende an dieser archäologischen Reliquie ist, dass sie uns heutigen Menschen so ähnlich ist. Und das Beruhigende an diesem Urahn ist, dass er von so weit herkommt und uns trotzdem so nah ist. Trotz all dem Klamauk, der sich in den Jahrtausenden seither angesammelt hat, sind wir geblieben, was wir immer schon sind: Menschen – Ötzi schauen, ist Mensch schauen.

Wer aber mit Ötzi gehen will, muss gut zu Fuß sein. Die Steinpyramide neben der Fundstelle am Tisenjoch steht auf einer Meereshöhe, auf der stolze Dreitausender ihr Gipfelkreuz stehen haben. Auf Bronzetafeln sind in mehreren Sprachen die Fakten der Entdeckung des „Mannes vom Similaun“ am 19. September 1991 aufgelistet. Einen schöneren und erhabeneren Platz zum Sterben hätte er nicht finden können, denke ich mir angesichts der Bergkulisse. Wobei es ja umgekehrt gewesen ist: Der Tod ist ihm bis auf diesen hohen Pass hinauf gefolgt. Wie und warum er getötet wurde, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Die Pfeilspitze in seiner linken Schulter, das Schädel-Hirn- Trauma kurz vor seinem Tod und tiefe Schnittwunden an seiner rechten Hand zeigen, dass definitiv Gewalt im Spiel war. Die hat bekanntlich kein Ablaufdatum. Der Tod des Manns von Gestern passt nur zu gut in die Welt von Heute: Der Fluch des Flüchten-Müssens ist aktueller denn je. Ötzi schauen ist leider auch in dieser Hinsicht immer noch „Mensch schauen“.

DIE FURCHE, Donnerstag, 1. September 2016


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