Anthropologie: "Was alte Knochen vermitteln"#
Von
Silvia Renhart
Aus: Katalog zur Ausstellung: Spuren der Vergangenheit. Archäologische Funde aus der Weststeiermark im Stölzle-Glas-Center Bärnbach. Mai bis September 1992. Hg.: B. Hebert und E. Lasnik.
Einleitung#
Die Wissenschaft, mit deren Hilfe man "alte Knochen" genauer bestimmen kann, nennt sich Anthropologie (anthropos = der Mensch, logos = die Lehre). Beinahe könnte man sagen: Anthropologie ist so vielfältig wie der Mensch selbst! Denn im einzelnen lassen sich innerhalb dieser Wissenschaft folgende Schwerpunkte unterscheiden, die alle, so verschieden sie auch anmuten, die Variabilität der Hominiden in Zeit und Raum zum Thema haben: Prähistorische (Historische) Anthropologie, Paläanthropologie, Rassenkunde und Populationsgenetik, Humangenetik, Untersuchung der Individualentwicklung und Industrieanthropologie.
Prähistorische (Historische Anthropologie)#
Die Prähistorische (Historische) Anthropologie beschäftigt sich u.a. mit den bei archäologischen Ausgrabungen gefundenen menschlichen Skeletten. Unter günstigen Bodenverhältnissen können vollständige Skelette geborgen werden, welche ein Maximum an Information liefern. Die Knochen und Ihre Grablegung weisen oft auf religiöse Vorstellungen, Gesellschaftsstruktur, Sitten und Lebensweise historischer Bevölkerungen hin. Sie sind also, unbhängig davon, ob es sich dabei um Skelettfunde, Leichenbrände, Mumien oder Moorleichen handelt, Quellenmaterial von biologischem und historischem Erkenntnis wert. Die Prähistorische (Historische) Anthropologie hat es sich nun im speziellen zur Aufgabe gemacht, diese Quellen zu erschließen, um sowohl Einzelschicksale wie auch Bevölkerungen vergangener Epochen zu rekonstruieren. Die Untersuchung menschlicher Skelette berührt natürlich auch transzendentale Werte und wirft
ethische Fragen auf. Da jedoch oft aufgrund kaum oder nur selten vorhandener und z. T. auch verfälschter schriftlicher Urkunden der Zugang zu unseren Ahnen verwehrt ist, bleibt uns nur diese Möglichkeit, um tiefere Einsichten in den Prozeß der Menschheitsentstehung und -geschichte zu gewinnen. Würde dieser wissenschaftliche Anspruch der Öffentlichkeit nicht mehr genügen, so würde dies das Ende einer Beschäftigung mit der menschlichen Evolutionsbiologie und der Suche nach dem Selbstverständnis des Menschen bedeuten.
Körperbestattungen – Brandbestattungen#
Bei der archäologischen Ausgrabung eines Gräberfeldes werden nicht nur Körper-, sondern auch Brandbestattungen gefunden. Als Körperbestattung werden die knöchernen, unverbrannten Relikte eines Menschen angesprochen.
Die Überreste eines menschlichen Körpers nach einer Verbrennung bezeichnet man als Leichenbrand. Die Verbrennung von Leichen ist eine in unserem mitteleuropäischem Raum über Jahrtausende nachweisbare und gebräuchliche Bestattungsform. Am häufigsten wurden Brandreste in Urnen bestattet, aber auch die Sitte, sie als Brandschüttung oder in einer Brandgrube beizusetzen, herrschte vor. Denkbare Motivationen, die zur Verbrennung von Leichen führten, könnten bestimmte Krankheiten und Todesarten, Jahrszeit des Todes sowie Abstammung und ethnische Zugehörigkeit gewesen sein. Größe, Farbe, Härte und Gewicht des Leichenbrandes vermögen Auskunft zur Technik der Leichenverbrennung zu geben. Anhand der Brandreste können ehenso wie bei Körperbestattungen Sterbealter, Geschlecht, Körperhöhe und pathologische Veränderungen bestimmt werden. Möglich ist ebenso eine begrenzte Aussage über die Konstitution einer Bevölkerung (Robustizität/Grazilität). Für die Ermittlung dieser Daten gelten am Leichenbrand grundsätzlich dieselben Kriterien wie bei der Bearbeitung von Körperbestattungen.
Die Arbeit eines Anthropologen#
Diese beginnt eigentlich, idealtypisch gedacht, schon bei der Ausgrabung eines Gräberfeldes. Denn sehr oft kommt es vor, daß infolge der Aggressivität von Bodensäuren der Erhaltungszustand der Knochen sehr gelitten hat. Trifft dies zu, ist es günstig, die Präparation und Befunderhebung bereits "in situ" (vor Ort) vorzunehmen. Dabei werden die Skelettelemente nach Abheben der darüberliegenden Erdschichten mit Feinwerkzeug freigelegt, photographiert, gezeichnet, beschrieben, oft auch vermessen und vorsichtig geborgen, wobei besonders auffällige Lageverhältnisse beachtet werden müssen. Denn neben Verlagerung unter der Liegezeit können hierfür auch gewaltsames Überstrecken im Gelenk, Fesselung oder auch Haltungsschäden ursächlich sein.
Nach der Bergung werden die einzelnen Knochen gereinigt, gehärtet und geklebt. Im Anschluß daran kann es zur Erhebung der Individualdaten wie Sterbealter, Geschlecht, Körperhöhe, Vermessung der einzelnen Skelettmerkmale nach international üblichen Richtlinien, Ortung von Besonderheiten (Diskreta) und Erfassung aller am Knochen erkennbaren Krankheitserscheinungen und Veränderungen (z.B. operative Eingriffe, wie. Trepanationen) kommen. Diese Individualdaten werden zusammengefaßt und charakterisieren eine Bevölkerung. Es kommt damit zur Schaffung fundamentaler sozialgeschichtlicher Daten.
Individualbefund - Bevölkerungsmodell – Bevölkerungsvergleich Geschlechtsdiagnose#
Die Geschlechtsdiagnose am Skelett muß in Ermangelung von Weichteilen anhand der sog. sekundären Geschlechtsmerkmale erfolgen. Die deutlichsten Unterschiede zwischen erwachsenen Frauen und Männern bestehen im Bau des Beckens und des Schädels. Das Becken (Abb. 1 u. 2) der Frau muß die anatomischen Voraussetzungen zum Austragen des Fötus während der Schwangerschaft und zum Gebären bieten, wie z.B. einen weiteren Beckenausgang und seitlich stärker ausgestellte Beckenschaufeln. Am Schädel (Abb. 3 u. 4) beruhen die Unterschiede vorrangig auf der allgemeineren Robustizität des Mannes, wie z.B. eine kräftig entwickelte Überaugen- und Nackenregion. Dies gilt auch für alle übrigen Abschnitte des Körper Skelettes, denn die größere Robustizität des Mannes ergibt sich aus seiner im Durchschnitt größeren Muskelmasse. Geschlechtsdiagnosen an Kindern müssen meist unterbleiben, da es erst während der Pubertät zur Ausbildung der klassischen sekundären Geschlechtsmerkmale kommt.
Sterbealtersbestimmung#
Bei der anthropologischen Sterbealtersbestimmung wird das "biologische" Alter eines Menschen zum Zeitpunkt seines Todes diagnostiziert. Dieses biologische Alter muß nicht immer im Einklang mit dem "chronologischen bzw. kalendarischen" Sterbealter stehen. Obwohl die körperlichen Veränderungen im Laufe der Entwicklung jedes Menschen genetisch fixiert sind, so können doch im Erwachsenenalter verschiedene Verschleiß- oder Degenerationserscheinungen zu individuellen Ausformungen führen. Um trotz dieser Unsicherheitsfaktoren zu ernstzunehmenden Ergebnissen zu gelangen, werden mit zunehmendem Sterbealter größere Spannen bei der Altersschätzung angegeben. Relativ genau kann die Bestimmung hingegen bei Kindern und Jugendlichen aufgrund zweier Befundkomplexe erfolgen: Entwicklungsstand bzw. Durchbruchzeiten der einzelnen Milch- und Dauerzähne und Verwachsung der sog. Epiphysenfugen. In den Epiphysenfugen befinden sich Zellen, die das Längen- und Größenwachstum der Knochen durch Um- und Aufbauvorgänge bewirken. Mit dem Abschluß des Längenwachstums verknöchern bzw. verwachsen diese Fugen vollständig. Auch beim Erwachsenen bilden die Zähne, und zwar ihr Abnutzungsgrad, eine wichtige Diagnosegrundlage. Jedoch sind dabei die Ernährungsgewohnheiten prähistorischer Bevölkerungen zu berücksichtigen. Weiters werden zur Altersschätzung noch Veränderungen an den Gelenken von Oberarm und -schenkel, Schlüsselbein und Schambein sowie die Verknöcherung der Schädelnähte herangezogen.
Demographie#
Die Analyse der nach den soeben beschriebenen Kriterien vorgenommenen Individualdiagnosen erlaubt Aussagen zu den Sterblichkeitsverhältnissen. Berechnungsvoraussetzungen sind eine vollständige oder zumindest beinahe vollständige Erfassung des betreffenden Gräberfeldes, Kenntnis der Belegungsdauer und Differenzierung verschiedener Zeithorizonte sowie Charakter der Nekropole (natürlicher Friedhof: aus Familien zusammengesetzte Bevölkerung; mechanischer: aus speziellen Gruppen bestehende Population, wie in Klöstern oder Militärlagern).
Das körperliche Erscheinungsbild#
Eine zentrale Stellung innerhalb der anthropologischen Bearbeitung eines Gräberfeldes nimmt die Frage nach dem Erscheinungsbild dieser Menschen ein. Dazu wird jedes Skelettelement vermessen. Die genaue Anwendung der Anthropometrie gestattet einerseits eine objektive Datenerfassung und andererseits die Möglichkeit, das Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeitsverhältnis zu anderen Bevölkerungen festzustellen. Unterschiede, die zwischen Populationen bestehen, können auf genetische, geographische, ökologische und historische Bedingungen zurückzuführen sein. Im bevölkerungswissenschaftlichen Sinne ist eine Bevölkerung (Population) eine Gruppe von Individuen, die in derselben Region (Stadt, Land, Staat) leben. Innerhalb dieser besteht natürlich eine Vielfältigkeit in der genetischen Ausprägung der Merkmale, da jeder Mensch (eineiige Zwillinge ausgenommen) wohl mit keinem anderen übereinstimmt. Um eine Population trotzdem charakterisieren zu können, wird ein statistischer Mittelwertstyp definiert.
Paläopathologie#
Bei der Bearbeitung eines Gräberfeldes kommt der Pathologie (Lehre von den Krankheiten) eine wichtige Rolle zu.
Die Aufgabe der Paläopathologie liegt in der Erforschung der Krankheiten und Todesursachen des Menschen in vergangenen Zeiten. Es kann sowohl das Leiden eines einzelnen Menschen als auch die Häufigkeit bestimmter Erkrankungen innerhalb einer Bevölkerung festgestellt werden. Diese Teildisziplin trägt somit wesentlich zur Erfassung und Interpretation von Umwelt- und Lebensbedingungen in der Vergangenheit bei.
Literatur:#
- H. HERMANN, Kleine Geschichte der Leichenbranduntersuchungen, Fornvaennen 75, 1980, 20 ff.
- U. HERMANN, Prähistorische Anthropologie - Leitfaden der 1 cld- und Labormethoden, 1989.
- R. KNUSSMANN (Hrsg.), Anthropologie - Handbuch der vergleichenden Biologie des Menschen, Bd. L, 1988.
- S. RENHART, Anthropologie: den Menschen von St. Prokulus auf der Spur. Ausstellungskatalog: St. Prokulus in Naturns - Ergrabene Geschichte. Von den Menschen des Frühmittelalters und der Pestzeit (Schloss Tirol), 1991, 153 ff.
- S. RENHART, Die frühen Kelten aus der Sicht der Anthropologie. In: J.-W. Neugebauer: Die Kelten im Osten Österreichs, Wiss. Schriftenreihe Niederösterreich 92/93/94, 1992, 131 ff. F. W. RÖSING, (1977): Methoden und Aussagemöglichkeiten der anthropologischen Leichenbrandbearbeitung. Archäologie u. Naturwiss. 1, 1977, 53 ff.
- J. WAHL: Leichenbranduntersuchungen: Ein Überblick über die Bearbeitungs- und Aussagemöglichkeiten von Brandgräbern, Wiener Prähistorische Zeitschrift, 57, 1982, 1 ff.
- J. u. S. WAHL: Zur Technik der Leichenverbrennung: I. Verbrennungsplätze aus ethnologischen Quellen, Archäologisches Korrespondenzblatt 13, 1983, 513 ff.