Von Häusern und Filmen - Michail Eisenstein#
Er war Vater eines berühmten Sohnes und ein erfolgreicher Architekt des Jugendstils. Am 1. Juli jährt sich der Todestag von Michail Eisenstein zum 100. Mal.#
Von der Wiener Zeitung (27. Juni 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Hermann Schlösser
Die Albertstraße in Riga gehört nicht zu den wichtigsten Orten dieser Welt, aber vielleicht zu den schönsten. Ihr Name greift weit in die Geschichte zurück - 1201 hat Bischof Albert die Stadt gegründet -, doch ihre Bebauung ist gänzlich im Jugendstil gehalten: Eine ornamentreiche Fassade reiht sich an die andere, und geheimnisvolle Sphinxe, leicht bekleidete Göttinnen, grimmige Drachen und groteske Masken blicken auf die Straße hinunter, die in der Landessprache Alberta Iela genannt wird.
Wie aber kam dieser Baustil in die ernste baltische Stadt, die seit eh und je ihre deutsch-hanseatischen Traditionen pflegte und seit 1710 zum zaristischen Russland gehörte? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte das Hafen- und Handelszentrum Riga einen gewaltigen Boom. Die Bevölkerungszahl wuchs, die Geschäfte gingen gut, zahlungskräftige Bauherren suchten nach standesgemäßem Wohnraum. Das historische Zentrum mit seinen massiven Kirchen und gedrungenen Gildehäusern bot wenig Raum für moderne Expansionsbedürfnisse, also wurde der Stadtmauerring geschleift und durch jene elegante Parkanlage ersetzt, die bis zum heutigen Tag die schöne Stadt durchlüftet und begrünt. Und jenseits dieser Fläche nahm ein weitläufiges neues Wohnviertel Gestalt an. Die Albertstraße wurde ihr künstlerischer Höhepunkt.
Ein neuer Stil#
Die bürgerlich aufstrebende Stadt fand im europaweit gepflegten Jugendstil ihre architektonische Ausdrucksform. Zwischen 1893 und 1912 entstanden etwa 800 Bauten in diesem Stil, der auch Art Nouveau genannt wurde. Mehrere Architekten und Künstler haben zur ästhetischen Stadterneuerung beigetragen, aber die unbestrittene Zentralfigur der kurzen Epoche war der 1867 geborene Michail Ossipowitsch Eisenstein. Dieser produktive Architekt, der allein in der Albertstraße sechs Häuser entworfen hat, leitete von 1893 an die Rigaer Bauverwaltung. Er war kein Lette von Geburt, sondern ein Russe, der in Sankt Petersburg studiert hatte und im Zug einer ordentlichen Beamtenlaufbahn in Riga gelandet war. 1915 wurde er zum "Staatsrat" ernannt, womit er laut "Rangtabelle der russischen Laufbahntitel" auch den Anspruch auf die Anrede "Euer Hochgeboren" erwarb.
Es haben sich zahlreiche Fotos des hochgeborenen Baudirektors erhalten: Stolz und stämmig steht er da, die Schnurrbartspitzen leicht nach oben gezwirbelt, die Dienstuniform in tadellosem Zustand. Auf einem dieser Bilder hält er ein Bübchen an der Hand, das ein wenig ängstlich dreinschaut. Dieser Knabe mit dem schulterlangen Haar und der weißen Matrosenbluse ist der einzige Sohn des Architekten: Sergej Michailowitsch, geboren 1898. Später sollte aus ihm ein revolutionärer Filmemacher werden, aber seine Kindheit hat er als behütetes Mitglied der Oberschicht von Riga verbracht.
Dass der kleine Sergej dennoch kein glückliches Kind war, lag nicht an den materiellen Verhältnissen (die ließen nichts zu wünschen übrig), sondern am glücklosen Eheleben seiner Eltern. Julia Iwanowna, seine Mutter, entstammte einer reichen Petersburger Familie, war attraktiv und lebenslustig, während ihr Gatte wohl eher jenem Männertypus entsprach, der heute Workaholic genannt wird. Julia suchte Unterhaltung bei einigen Liebhabern, ihre Ehe wurde 1909 geschieden, sie verließ Riga und ging in ihre Heimatstadt zurück, die damals noch Sankt Petersburg hieß, fünf Jahre später jedoch als "Petrograd" russifiziert wurde. Sergej, der seiner Mutter nahestand, musste beim Vater bleiben, da die schuldig Geschiedene kein Sorgerecht beanspruchen konnte. Wie es sich für einen Jüngling seines Herkommens anbot, flüchtete er sich ins gebildete Innenleben, las viel, lernte mehrere Sprachen und zeichnete. Die Qualität seiner Skizzen ließ schon früh eine große und eigenwillige Begabung erkennen.
Als die Bolschewiken im Oktober/November 1917 die Macht in Russland übernahmen, zählte zu ihren erbitterten Gegnern auch der Staatsrat Eisenstein. Im Bürgerkrieg diente er für kurze Zeit als Ingenieur in der Weißen Armee, die sich der Revolution widersetzte. Als sich der Sieg der Roten Armee 1918 abzeichnete, verließ Michail Eisenstein seine Heimat und ging nach Berlin ins Exil. Die deutsche Hauptstadt war ein Sammelbecken für all jene geworden, die in der neu gegründeten Sowjet-Union keinen Platz finden konnten oder wollten. Die sowjetische Propaganda behauptete zwar, nur verknöcherte Großfürsten würden das Land verlassen, aber tatsächlich sind ein bis zwei Millionen Russinnen und Russen im ersten nachrevolutionären Jahrzehnt ausgewandert.
Etwa 300.000 von ihnen haben sich in Berlin niedergelassen. Insbesondere in Charlottenburg entstand eine lebhafte Parallelgesellschaft mit eigenen Lokalen, Geschäften und Buchhandlungen, die dem Stadtteil die Spitznamen "Sankt Petersburg am Wittenbergplatz" oder "Charlottograd" einbrachte. Michail Eisenstein konnte am kulturellen Leben dieser Diaspora allerdings nicht lange teilhaben. Er starb vor 100 Jahren, am 1. Juli 1920, im 53. Lebensjahr. Sein Grab auf dem Friedhof der Russisch-Orthodoxen Gemeinde in Berlin-Tegel kann heute noch besucht werden.
Im selben Jahr, in dem Michail Eisensteins Leben in Berlin zu Ende ging, begann der künstlerische Höhenflug seines Sohnes in Moskau - also der Stadt, die 1918 Petrograd als russische Hauptstadt abgelöst hatte. Nun gehört es zu den Standardsituationen einer Künstlerbiographie des 20. Jahrhunderts, dass der Sohn andere Wege einschlägt als der Vater. In Eisensteins Fall ging die Auflehnung jedoch über den ödipalen Grundkonflikt hinaus: Aus dem verträumten Großbürgerkind wurde binnen weniger Jahre ein revolutionärer Marxist.
Dabei war der junge Mann zunächst ganz brav dem Vorbild seines ungeliebten Vaters gefolgt und hatte ein Studium als Architekt und Zivilingenieur an derselben Technischen Hochschule absolviert, von der auch Eisenstein senior ausgebildet worden war. Und wie der Ältere, hat auch der Jüngere im Bürgerkrieg als Ingenieur gekämpft - allerdings nicht auf der weißen, sondern auf der roten Seite. Spätestens da zerriss das Band zwischen Michail und Michailowitsch. Erst 1923 hat Sergej Eisenstein erfahren, dass sein Vater schon seit drei Jahren nicht mehr am Leben war.
Revolutionäre Kunst#
1920 gab der jüngere Eisenstein seinen erlernten Beruf endgültig auf und verschrieb sich der avantgardistischen Kunst. Er studierte die "Biomechanik" des Theaterrevolutionärs Wsewolod Meyerhold, die ungeahnte Darstellungsweisen erschloss. Er gehörte auch einem Theater an, das die Solidarität mit der aufsteigenden Klasse schon in seinem Namen "Proletkult" kundtat. Dieses Ensemble versuchte, das bolschewistische Programm in experimentelles Bühnengeschehen zu übersetzen. Eisenstein wirkte dabei als Regisseur und Bühnenbildner mit, entdeckte aber sehr bald das Medium, das ihm noch zeitgemäßer, einflussreicher und vielseitiger zu sein schien als das Theater. Von 1923 an erschloss er sich die Techniken und Möglichkeiten des Films, und zwei Jahre später gelang ihm sein erstes Meisterwerk, der Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin". Dieses Heldenepos der gescheiterten ersten russischen Revolution des Jahres 1905 wurde von Anfang an zu den genialen Pionierleistungen der Filmkunst gezählt.
Wolfgang Koeppen, ein inspirierender literarischer Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts, erinnerte sich 1974 an eine Aufführung von "Panzerkreuzer Potemkin" im Berlin der Zwischenkriegszeit: "Nach unserer Begeisterung in und vor dem Filmtheater gingen wir in eines der vielen weißrussischen Emigrantenlokale in Berlin, die, wie jedermann glaubte, von durch die bolschewistische Revolution vertriebenen und verarmten russischen Prinzessinnen und Großfürstinnen bewirtschaftet wurden. Also eine Prinzessin, sehr jung, ein rotblondes Kind mit schwarzem Servierkleid und weißer Schürze brachte den Tee und fragte mit schwebendem deutsch-russischen Akzent, ob mir der ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ vielleicht gefallen hätte. Die Prinzessin aus der Sage hatte im Kino hinter mir gesessen. Ich sagte der kaiserlich-russischen Prinzessin, wie sehr mir der sowjetrussische Film gefallen habe, und die kleine Großfürstin rief ‚schön, so wunderschön russisch‘, hatte sehr helle Augen und war gar nicht gekränkt."
Jenseits der Ideologie#
Ein Film, der sogar seine Gegner zu bezaubern vermag, verfügt offensichtlich über Qualitäten, die über die unmittelbar politische Botschaft hinausweisen. Was für "Panzerkreuzer Potemkin" gilt, bewahrheitet sich auch an Eisensteins späteren Arbeiten: Ihre kommunistische Tendenz steht immer außer Frage, und dennoch erreichen sie nicht nur Gleichgesinnte. Die Intensität ihrer Bilder, die Intelligenz ihrer Bildmontagen berühren und beschäftigen auch Zuseher und Zuseherinnen, die mit dem historischen Materialismus nichts im Sinn haben.
Sergej Eisenstein starb 1948, kurz nach seinem 50. Geburtstag. Nicht alle seine Vorhaben konnte er vollenden, manches scheiterte an engstirnigen sowjetischen Zensurvorschriften, anderes am Geld. Aber sein fragmentarisches Werk wirkt weiter und hat auch den Rückzug der Sowjet-Union aus dem Gang des Weltgeschehens überdauert.
Das Werk des älteren Eisenstein hat ebenfalls sein Nachleben. Im Kommunismus wurden seine Häuser als Relikte einer spätbürgerlichen Luxuskultur abgewertet und eher vernachlässigt. Seit aber Lettland im Jahr 1991 zur autonomen Republik geworden ist, wurden die meisten Rigaer Jugendstil-Bauten in der Albertstraße und anderswo sorgfältig renoviert. Sie gelten als Wahrzeichen der lettischen Identität, gehören zum Unesco-Kulturerbe und sind in Riga als touristische Attraktionen ebenso begehrt wie die historische Altstadt oder der Fluss Daugawa, der breit und wellenreich der Ostsee entgegenströmt.
Hermann Schlösser ist Literaturwissenschafter und war bis April 2018 Redakteur im "extra".
Literaturempfehlungen:#
- Viktor Schklowski: "Eisenstein". Romanbiographie. Volk und Welt Verlag Berlin, 1986.
- Martinš Silins: "Michail Eisenstein. Ein Meister des Jugendstils in Riga". Madris Verlag, Riga o.J.
- Wolfgang Koeppen: "Eisenstein und Babel". In: "Die elenden Skribenten." Aufsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1981.