Wenn Häuser sich brüsten#
Erker und Chörlein in der Schweiz, in Deutschland und im Elsass#
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Die Abbildungen wurden vom Autor im Zeitraum zwischen 1983 und 2011 gemacht. Sie sind Teil des Archivs „Bilderflut Jontes“
Stattliche städtische Bauten zeigen schon mit ihrer Fassade, welche repräsentative Bedeutung ihnen ihr Bauherr oder Ausgestalter beimisst. Wenn auch die Front des Gebäudes der geraden Linie der Gasse oder Straße folgt, so erlauben die Fenster nur einen Blick hinunter oder gerade aus. Baut man aber einen Erker vor, der verglaste Fenster zeigt, so kann man sich, ohne sich weit aus dem Fenster zu beugen, einen Blick auch nach links und rechts tun. Außerdem bieten diese Brustflächen die Möglichkeit, in Schnitzwerk oder Malerei beziehungsreiche Dekorelemente künstlerischen Anspruchs vor Augen zu stellen. Das Haus streckt sich nach vor. Es brüstet sich.
Es handelt sich also um einen Fassadenausbau, einen Erker aus Stein oder Holz. Die Anfänge finden sich bereits in der gotischen Architektur und im frühen Burgenbau. Besonders fruchtbar war in dieser Hinsicht die Zeit der Renaissance, in welcher auch zahlreiche mythologische Darstellungen zur antiken Klassik Eingang fanden.
Man spricht also von einem Erker. Das Wort ist ein Lehnwort aus dem älteren Französisch, wo arquière ursprünglich eine Schießscharte, den Standpunkt des Verteidigers einer Burg oder Festung bedeutet. In Nürnberg hat seit dem 19. Jahrhundert der Begriff Chörlein Eingang in die Fachterminologie der Architektur gefunden.
Ausgewählte Beispiele aus der Schweiz, dem Elsass und Deutschland sollen das Phänomen illustrieren.
St. Gallen, die drittgrößte Stadt der Schweiz, zeigt ihre durch Handel erworbene Wohlhabenheit in ihrer Altstadt mit zahlreichen Prachtbauten. Die gotische ehemalige Stiftskirche und die weltberühmte Stiftsbibliothek verweisen auf den geistigen Reichtum, der mit der Klostergründung um 720 begonnen hatte. Der irische Missionar Gallus soll sich hier mit seinen Gefährten niedergelassen haben. Sein Attribut ist ein Bär, der dem Heiligen willentlich zu Diensten gewesen sein soll.
In der Altstadt gibt es heute noch an die einhundert solcher Erker. St. Gallen hat gegenüber den meisten deutschen Städten den Vorteil, dass die Schweiz als neutraler Staat von Kriegszerstörungen verschont blieb, während in anderen Ländern durch den Krieg unersetzliche Baudenkmäler und Kulturschätze zerstört wurden.
St. Gallener Altstadtstraßen mit Erkerfolge
Erker sind oft mehrgeschossig und haben deshalb Zugang aus mehreren Stockwerken.
Hier werden die im 17. Jahrhundert vier bekannten Erdteile personifiziert.
Dieses Fachwerkhaus in gotischen Proportionen zeigt zwei Eckerker.
Hier trägt der Vorbau auch den Hausnamen in beziehungsvoller künstlerischer Begleitung.
Zuweilen überrascht auch die Untersicht des Erkers:
Die Schlange mit der Giftschale verweist wohl auf einen Apotheker.
Der Seelenwäger Erzengel Michael mit Waage und Schwert hat zu Füßen einen Storch als Symbol der Klugheit, weil er, um an das Wasser in einer Flasche zu gelangen, Steine in diese warf.
Der Distelfink als Erkermalerei.
Fachwerkbauten bieten den architektonisch bewegtesten Anblick. Sie bestehen aus einem sich in Mustern gegenseitig abstützenden Balken, wobei die Zwischenräume mit Bruchsteinen und Mörtel „ausgefacht“ wurden.
Auch das frühe 20. Jahrhunderte versuchte sich noch in dieser Art Schmückung des Hauses und tat dies hier mit einem Spruch in charaktervoller Jugenstil-Schrift.
Das Elsass hat in seiner Geschichte alle Fährnisse mitgemacht, welche das wechselvolle Nacheinander des vielfältigen Zwistes zwischen Frankreich und Deutschland von 1648 bis 1945 mit sich gebracht hatte. Heute ist das Land endgültig französisch und die Reste deutscher Kultur und Sprache sind eher ungeliebte Marginalien geworden. Die Stadt Colmar nimmt in voller Breite an diesem Schicksal teil. Seine prächtige Altstadt, die als größte Kostbarkeit den Isenheimer Altar des Meisters Mathis Grünwald beherbergt, blieb vom Bombenkrieg verschont und hat unter seinen städtischen historischen Bauten ebenfalls eine ganze Reihe von Fassadenerkern aufzuweisen. Sie können sich ohne weiteres mit denen von Sankt Gallen messen. Ihre Folge spricht für sich selbst.
Nürnberg ist heute nur mehr ein Schatten seiner selbst. Zwar sind viele Wunden vernarbt, die Hauptkirchen und die Kaiserburg wieder erstanden. Aber die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, die vor allem der Stadt der Reichsparteitage der NSDAP galten, hatten diese einst freie Reichsstadt nahezu ganz ausradiert. Deshalb ist in dieser einstigen Hauptstadt des Handwerks und des Handels, diesem Paradies der Gotik und Renaissance, dieser Stadt aus Fachwerkbauten nur mehr in Ansätzen zu erkennen, wie sie einst gewesen war. Auch Nürnberg, der Wirkungsbereich Albrecht Dürers und Hansen Sachs’, war eine Stadt der Fassadenerker, der Chörlein, wie man hier sagt. Wenige sind im Original erhalten geblieben, etliche wurden rekonstruiert oder im alten Geiste nachgeschaffen, die meisten aber fehlen. Ein überaus schmerzlicher Verlust!
Das Nassauer Haus gegenüber der Kirche St. Egidien ist das älteste Beispiel eines mittelalterlichen Wohnturms. Auf Fundament und Erdgeschoß aus dem 12. und 3. Jahrhundert aufstrebend, trägt es ein Chörlein im dritten Obergeschoß und Eckerker in der Dachzone.
Das Sebalduschörlein ist ein hochgotischer Bau einzigartiger Schönheit. Es ist ein Anbau an Hauskapelle des zur Sebalduskirche gehörigen Pfarrhofes, der 1361 erstand. Wegen Gefährdung wurde das Original in das Germanische Nationalmuseum übertragen und 1902 durch eine Kopie ersetzt. Man erkennt hier auch die Entstehung des Begriffes Chörlein, gleicht er doch dem Chor als Abschluss des Altarraumes und Ende des Kirchenraumes.
Das über dem Flusslauf der Pegnitz liegende einstige Nürnberger Allerheiligenspital besitzt einen über alle Geschoße sich erstreckenden Erkervorbau.
Die zierliche Brust dieses Renaissance-Chörleins ziert der Doppeladler des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.
Schon ins Barock weist dieses Chörlein:
Bombenlücken wurden durch funktionelle Neubauten geschlossen und zur Rekonstruktion des Straßenbilder auch mit Chörlein versehen.
Neuschöpfungen erkennt man instinktiv an ihrer schmucklosen Schlichtheit und ihren glatten Flächen.
Die Häuser der reichen Kaufleute waren vielgeschossig. Im Erdgeschoß lagen Stallungen und Küchen, im ersten Stock die Geschäftsbüros, darüber die Wohnräume. Die Hauptlager für Waren befanden sich unter dem Dach und ein sogenannter Laderker ermöglichte einen Transport dorthin mittels Seilwinde.