Am Gängelband der Gestapo#
V-Leute der Nazis unterwanderten auch in Österreich systematisch den antifaschistischen Widerstand.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 14. Oktober 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Hans Schafranek
Nach 1945 war die angebliche "Allgegenwärtigkeit" der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) ein gängiger Topos in der Publizistik, in Filmen und anderen Medien. Diese oftmals behauptete oder implizit unterstellte Omnipräsenz des gefürchtetsten NS-Terrorapparats entpuppt sich bei näherem Hinsehen jedoch als leicht zu widerlegende Legende. Im Jahre 1941 zählte die Gestapo im Großdeutschen Reich (inklusive dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie den annektierten westpolnischen Gebieten) lediglich 12.500 Mitarbeiter, die eine Schreckensherrschaft über etwa 97 Millionen Menschen ausübten.
Trotz dieser äußerst dünnen Personaldecke gelang es ihr, fast alle Gruppen des organisierten politischen Widerstandes zu zerschlagen. Widerstand und Verrat in der NS-Ära: Sie sind eng miteinander verflochten, ja fast unauflöslich verknüpft - wie Polizei und Verbrechen, Prostituierte und Freier, harte Drogen und Beschaffungskriminalität...
Dennoch hat die geschichtswissenschaftliche Forschung um die Thematik der Gestapo-Spitzel bis in die 1990er Jahre einen weiten Bogen gemacht, und bis heute gibt es zwar eine Anzahl von wissenschaftlichen Aufsätzen, aber keine größere, "flächendeckende" Untersuchung über eine Region oder gar eine Gesamtdarstellung zu diesem wichtigen Komplex.
Spürsinn erforderlich#
Die Gründe für dieses jahrzehntelange Ausblenden sind ganz unterschiedlicher Natur. Zum einen erfordert die Untersuchung dieses Themas oftmals geradezu einen kriminalistischen Spürsinn. Denn die V-Leute (=Vertrauensleute) trugen in den allermeisten Fällen Decknamen und durften aus Gründen der Abschirmung mit ihren Opfern nach deren Verhaftung nicht konfrontiert werden. Wie Schatten geistern sie zumeist durch die Vernehmungsprotokolle der Gestapo und die Akten zahlreicher NS-Prozesse gegen Widerstandskämpfer.
Ein anderer Grund für die Marginalisierung der Thematik ist in "volkspädagogischen" und/oder politischen bzw. psychologischen Faktoren zu suchen. Die "Heroisierung" des antifaschistischen Widerstandes, seine Präsentation als unaufhaltsame "Erfolgsstory" mutierte in der DDR zum nationalen Gründungsmythos und vertrug sich schlecht mit der Tatsache, dass kommunistische und andere Widerstandsgruppen durch V-Leute monatelang, mitunter sogar über Jahre am unsichtbaren Gängelband der Gestapo geführt wurden.
Aber auch alle politischen Parteien in Österreich und der BRD, die sich nach 1945 auf den Widerstand gegen das NS-Regime beriefen oder personell teilweise sogar aus diesem hervorgingen, hatten kein Interesse, sich diesem schmerzlichen Teil ihrer Vergangenheit zu stellen.
Um organisierte illegale Gruppen und Netzwerke aufzuspüren, zu unterwandern und schließlich "aufzurollen", wie es im Gestapo-Jargon hieß, bedurfte es des gezielten Einsatzes von V-Leuten bzw. Konfidenten - so ihre Bezeichnung in Österreich. Für die angestrebte Zentralisierung des Spitzelsystems bei der Gestapo spielte die Etablierung eines Nachrichtenreferats (N-Referats) der Gestapo-Leitstelle Wien im Oktober 1938 eine Vorreiterrolle.
Im sogenannten "Altreich" fand dieser Zentralisierungsprozess erst Jahre später statt, bis dahin wachten die einzelnen Exekutivreferate eifersüchtig über ihre jeweils eigenen Spitzel und waren nicht bereit, sie Gestapo-intern "abzutreten".
Alle Mitarbeiter des Wiener N-Referats hatten bereits unter dem "Ständestaat" dem Polizeiapparat angehört, und der Referatsleiter (Lambert Leutgeb) war bei der österreichischen Staatspolizei von 1936 bis 1938 mit der Betreuung von Konfidenten befasst. Auch ein Teil der V-Leute betrieb dieses schmutzige Handwerk schon unter der "austrofaschistischen" Diktatur. Diese teilweise personelle Kontinuität trug auch zur mörderischen "Effizienz" des Spitzel-systems in der "Ostmark" bei.
V-Leute aller Art#
Die Gestapo in der "Ostmark" re-krutierte ihre V-Leute aus allen Gesellschaftsschichten, von "lumpenproletarischen" Existenzen bis hin zu einem Erzherzog. Nach einer sehr grobmaschigen Kategorisierung sind tendenziell zwei "Gruppen" auszumachen, die sich personell teilweise überlappten: Einerseits (Klein)-Kriminelle, die zu einem erheblichen Teil bereits vor 1938 von der österreichischen Staatspolizei auf illegal tätige Organisationen angesetzt wurden; zum anderen Teil Antifaschisten, die aufgrund ihrer politischen Vergangenheit in einem hohen Maße erpressbar waren.
So sah etwa ein Erlass des RSHA (Reichssicherheitshauptamtes) vom Mai 1939 vor, KZ-Häftlinge, die anlässlich einer Amnestie freigelassen wurden, als V-Leute anzuwerben.
Brillante Top-Agenten à la James Bond darf man sich unter den österreichischen Gestapo-Spitzeln nicht vorstellen. Dutzende Konfidenten, über die nähere Informationen vorliegen, litten an Krankheiten oder körperlichen Gebrechen, andere waren Alkoholiker oder morphiumsüchtig, was die Gestapo gezielt ausnützte, indem sie die Betreffenden mit dem Suchtgift versorgte. Selbst Kurt Koppel ("Ossi", "Glaser"), der 1940/41 der Wiener Gestapo die Namen und Adressen von 800 (!) illegal tätigen Kommunisten preisgab, litt an einem körperlichen Handicap: Er war so kurzsichtig, dass er - als Angehöriger der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg - wegen Frontdienstuntauglichkeit nach Frankreich zurückgeschickt worden war.
Infiltration#
Die schwersten Verluste durch eingeschleuste V-Leute erlitt zweifellos die kommunistische Untergrundbewegung. Aber auch die Zerstörung fast aller anderen Gruppierungen im Widerstand wurde in einem hohen Maße, häufig primär durch die Infiltration von Konfidenten verursacht, egal, ob es sich um sozialistische, legitimistische, konservative, katholische oder überparteiliche Kreise handelte. Auch der militärische Widerstand und jüdische Fluchthilfeorganisationen waren dagegen nicht gefeit.
Auf das Konto von Otto Hartmann gingen 1940 annähernd 300 Festnahmen (Gruppen Scholz/Lederer/Kastelic). Als Schauspieler am Burgtheater erhielt er nur kleinere Rollen, als Gestapospitzel durfte er endlich die Rolle seines Lebens spielen und war, bis dahin stets in Geldnöten, seiner materiellen Sorgen enthoben, da er für seinen Verrat mit einem fürstlichen Judaslohn honoriert wurde (angeblich 30.000 Reichsmark).
Ein Vergleich zwischen der Gestapo-Leitstelle Wien und dem "Altreich" lässt erkennen, dass die Unterwanderung des Widerstandes in der "Ostmark" noch stärkere Dimensionen annahm. Denn die Wiener Gestapo "begnügte" sich nicht damit, in bereits bestehende Widerstandsgruppen einzudringen und diese sukzessive zu unterwandern.
Am 2. April 1942 konstituierte sich ein illegales "Zentralkomitee der KPÖ", das als reine Gestapo-Konstruktion identifiziert werden konnte. Dieses "Leitungsgremium" wurde von drei Gestapo-Spitzeln (Josef Koutny, Leopold Koutny, Margarete Kahane) initiiert, die restlichen fünf Mitglieder waren arglose "echte" KP-Sympathisanten. Die genannten V-Leute hatten sich bereits seit den frühen 1930er Jahren in der kommunistischen Bewegung intensiv betätigt, bevor sie 1940/41 von der Gestapo "umgedreht" wurden.
Die "Rekrutierung" der Spitzel bewegte sich in einem breiten Spektrum zwischen Freiwilligkeit und Zwang. Für die eine Seite stehen etwa drei geltungssüchtige Jugendliche, die sich 1939 in eine Wiener Bezirksorganisation des Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) einschlichen, mit dem Wissen um alle organisatorische Vorgänge bei der Gestapo vorstellig wurden und in der Folge als V-Leute angeworben wurden.
Der Fall Zwifelhofer#
Am anderen Ende begegnen wir - stellvertretend für ähnliche Fälle - einem Mann wie Karl Zwifelhofer, der in einer völlig aussichtslosen Lage einen Deal mit der Gestapo aushandelte, um sein Leben zu retten. Bereits als 16-Jähriger im KJV aktiv, gehörte er ab 1925 dessen Zentralkomitee an und avancierte in der KPÖ zu einem Spitzenfunktionär (1933/34 Mitglied des ZK und des Polbüros). Als "Berufsrevolutionär" war Zwifelhofer in vielen europäischen Ländern in geheimer Mission unterwegs, bevor er im März 1941 der Prager Gestapo ins Netz ging.
"Zwifelhofer redete wie ein Buch" - diese Einschätzung von Hilde Koplenig (Witwe des langjährigen KPÖ-Vorsitzenden Johann Koplenig) in einem Interview mit dem Verfasser bestätigte sich Jahrzehnte später durch den Fund der Gestapo-Vernehmungsprotokolle in Berlin und Moskau.
Im November 1942 vor den Schranken des Volksgerichtshofs, zog Zwifelhofer nach Verkündung des Todesurteils eine letzte Karte aus dem Ärmel. Er bot der Gestapo weitere Informationen an, die so wichtig waren, dass noch 1943, nach zweijähriger Haft, illegale Widerstandsgruppen ausgeforscht werden konnten. Die Gestapo intervenierte wiederholt beim Reichsjustizministerium, um einen jeweils sechsmonatigen Aufschub der Vollstreckung des Todesurteils zu erwirken. In der Haft betätigte sich Zwifelhofer auch als "Zellenspitzel" und "bearbeitete" mehr als 70 Mithäftlinge, um sie zu Geständnissen zu bewegen. Im Sommer 1945 verliert sich Zwifelhofers Spur . . .
Soeben erschienen:
Hans Schafranek: Widerstand und Verrat.
Czernin Verlag, Wien 2017,
504 Seiten, 29,90 Euro.
Hans Schafranek, geboren in Schärding (Oberösterreich), freiberuflich tätiger Historiker; lebt in Wien, Berlin und Brüssel. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, Stalinismus, Widerstand gegen das NS-Regime und Nachrichtendienste im Zweiten Weltkrieg.