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Im Baatarlant der Zimbern #

Vor vielen Jahrhunderten haben deutschsprachige Einwanderer in Oberitalien eigene Gemeinden gegründet.#


Von der Wiener Zeitung (25. Februar 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Gero Vogl


Seit vielen Jahren zieht es mich zu den Sprachinseln Mitteleuropas, vielleicht, weil ich selbst in einer mittlerweile untergegangenen Sprachinsel geboren bin. Besonders zog es mich zu den Ladinern in den Dolomiten und zu den Kärntner Slowenen, die ich immer wieder besucht habe.

Doch am Südrand der Alpen, in einer Ecke der Region Trentino-Südtirol - genauer: im Weiler Lusérn - und in den Provinzen Verona und Vicenza der Region Venetien - genauer: in den "Dreizehn Gemeinden" und den "Sieben Gemeinden" - musste es eine sprachliche Minderheit geben, von der ich lange nur gelesen hatte: die Zimbern, die ein mittelalterliches Deutsch sprechen sollten. Gab es die Zimbern wirklich noch? Das fragte ich mich, lange bevor es Internet und Wikipedia gab. Die aktuellen Berichte über sie konnte man damals an den Fingern einer Hand abzählen.

Die glaubwürdigeren Quellen betonten, dass die Zimbern nicht von den aus der Schule bekannten Zimbern und Teutonen abstammen, die der römische Feldherr Marius bei Vercelli 101 v. Chr. besiegt und großteils vernichtet hat. Sie seien vielmehr Nachkommen von bairisch-schwäbischen und vielleicht auch Tiroler Kolonisatoren, die die adeligen und kirchlichen Grundherren des weitgehend urwaldartigen Berglands vor vielen hundert Jahren (ab 1000 n. Chr. oder erst ab 1200, so genau weiß man das nicht) nördlich von Verona und Vicenza auf den ausgedehnten Hochebenen zwischen den tiefen Schluchten angesiedelt haben, um den Wald zu roden und zu nutzen.

Der erste Besuch#

Schließlich wurden sie gefragte Zimmerleute ("Zimbern"). Sie sollten ein für uns fast unverständliches mittelalterliches Deutsch sprechen oder noch vor kurzem gesprochen haben. So laute die Bitte um unser tägliches Brot im Vaterunser bei den Lusérnern: "Gibas haüt ó ünsar proat."

Vor einigen Jahren beschloss ich dann, "von ganz hinten" zu den Zimbern zu wandern, also nicht durch die Täler, die von Verona oder Vicenza hinauf in die zimbrischen Berge führen, sondern über die Sättel aus dem Norden, über die die Zimbern angeblich eingewandert sind. Sehr steil stieg ich hinauf auf den Altopiano di Lavarone, die Hochebene von Lafraun, wie sie in altösterreichischer Zeit hieß. Ein paar Kilometer wurde ich von einem freundlichen Autofahrer aus Padua mitgenommen, der dem Österreicher beteuerte, die Region Venetien würde sich liebend gern an uns anschließen. "Naja", erwiderte ich in meinem bescheidenen Italienisch, "ihr wisst nicht, was ihr euch da einhandeln würdet ..."

Im eigentlich geschlossenen Hotel "Cervo in Lavarone" erhalte ich freundliche Aufnahme. Der junge Wirt schwelgt in Altösterreich-Nostalgie, wir radebrechen in unseren Sprachen und in der des anderen. Er empfiehlt Lusérn, das wäre der letzte Ort, wo die Leute "alle" noch zimbrisch sprächen. So also wandere ich die zehn Kilometer mit einigen Erwartungen nach Lusérn. Doch zu meiner Enttäuschung höre ich im einzigen offenen Wirtshaus, dem "Rossi", nur Italienisch, kein Zimbrisch, kein Deutsch.

Zu Hause surfe ich im Internet: Es gibt nicht wenige Wörterbücher des Zimbrischen. Das neueste hat 2014 das Kulturinstitut Lusérn (www.istitutocimbro.it) für das Lusérner Zimbrische herausgegeben: "Zimbarbort. Bortarbuch Lusérnesch-Belsch" und umgekehrt, also Lusérnisch-Italienisch. Die Zimbern haben, so erfahre ich, ihr bairisch-schwäbisches Deutsch aus der Übergangszeit zwischen Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch mitgebracht und es seither nicht verändert. Besonders auffällig erscheint mir, dem Nichtfachmann, dass die Zimbern oft ein b sprechen, wo wir ein v oder w verwenden, daher Baatarlant statt unserem Vaterland, Bort statt Wort.

Im November 2022 fahre ich mit meiner Frau im Auto zu den Zimbern: von Rovereto im Etschtal hinauf zum Passo do Fittanze in fast 1.400 Meter Seehöhe, der alten Grenze zwischen Österreich und Italien. Ein protziges mussolinisches Heldendenkmal zeugt von den schweren Kämpfen, die in der Grande Guerra, dem Ersten Weltkrieg, dort gewütet haben.

Über weitere Pässe und durch um diese Jahreszeit fast völlig verlassene Weiler gelangen wir bis nach Bosco Chiesanuovo (Naugan Kirche auf Zimbrisch), dem ehemaligen wichtigen zimbrischen Städtchen und einem der Hauptorte der Dreizehn Gemeinden, in dem heute nur noch die auf Touristen gemünzten Namen der Restaurants auf die Zimbern hinweisen. Weiter geht es über eine wellige Hochfläche, die mehrmals von Schluchten durchbrochen ist, nach Giazza (Ljetzan), dem letzten Weiler der Dreizehn Gemeinden, wo angeblich vor kurzem noch einige Leute Zimbrisch verstanden hätten.

Wir besuchen das interessante Zimbernmuseum, in einer italienischsprachigen Führung; spazieren über die wellige, dünn besiedelte Hochebene, die gesprenkelt ist von kleinen Weilern (contrade heißen sie hier), mit Namen, von denen einige für uns fast heimatlich klingen. Wir beginnen Gespräche mit Menschen, die ihre alten Häuser auf "zimbrische Art" mit riesigen Steinplatten neu eindecken: Sie "sind natürlich Zimbern", doch zimbrisch spricht niemand mehr, auch nicht toitsch. "Nicht mehr", die Großmutter hätte noch Geschichten erzählt, vielleicht noch in einer Mischsprache aus Zimbrisch und Italienisch.

Sprachunterricht#

Und dann zieht es uns nach Lusérn, weil doch dort angeblich "noch alle" zimbrisch sprechen. Zuerst wieder in das Gasthaus "Rossi", und wieder reden dort alle Gäste italienisch. Nachdem sich das Lokal geleert hat, unterhalten wir uns mit den Wirtsleuten, "reinen Zimbern", wie sie sagen, in einer Mischung aus Deutsch und Italienisch. Sie erzählen, dass die Volksschule (scuola elementare) in Lusérn aufgelöst sei, die ganz wenigen Kinder werden nach Lavarone in die Schule gefahren, dort gebe es einige Stunden Zimbrisch.

Auf der Wikipedia-Seite zu Lusérn lese ich: Seit 2006 "besuchen die Lusérner Kinder die Volksschule in Lavarone. Hier wird die zimbrische Sprache als Wahlfach unterrichtet. Ein italienisches Gesetz zum Minderheitenschutz von 1999 macht es möglich. Von diesem Angebot machen auch viele Kinder aus Lavarone und den Nachbardörfern Gebrauch, wo die zimbrische Sprache schon seit Jahrzehnten ausgestorben ist."

Die sehr aktive Homepage "Z Tóar zomme Zimbarlante" (Tor zum Land der Zimbern, www.zimbrisch.de) des Zimbrischen Kulturinstituts und ein vor kurzem erschienener Sammelband "Deutsche Sprachinseln im Aufblühen" sehen die Zukunft jedoch positiv.

Wir schauen zum Kindergarten und treffen die Kindergärtnerin mit vier Kindern: Sie spräche mit ihnen zimbrisch, sagt sie. Wir hören, wie sich die Kinder auf dem Spielplatz auf Italienisch zurufen. Nur beim Straßenkehrer kommt langsam sein Zimbrisch hervor, das er mit hochdeutschen Worten verbindet, sodass ich es durchaus verstehe. Einer der ganz wenigen, die zu Hause offenbar noch zimbrisch reden, vielleicht weil er keine Schule besucht hat, wo nur auf Italienisch unterrichtet wird?

Über den Vezzena-Pass, die Grenze von Trentino-Südtirol zur Region Venetien, fahren wir hinüber auf den Altopiano dei Sette Comuni, die Hochfläche der Sieben Gemeinden, die bis 1797 zur Republik Venedig gehörten. Die Serenissima ließ ihnen über 400 Jahre ihre Selbstverwaltung - und damit auch ihre eigene Sprache. Erst Napoleon liquidierte diese Quasiautonomie, die nach dem Wiener Kongress die Habsburger als neue Souveräne nicht wiederaufleben ließen. Eingaben nach Wien blieben unbeantwortet, und in Unkenntnis der Lage auf der Hochebene führte die österreichische Verwaltung die italienische Schul- und Amtssprache ein und begann damit die endgültige Italianisierung der Gemeinden. 1866 verlor Österreich Venetien an das neuerstandene Italien.

Auch heute sieht es mit der Unterstützung von Minderheitsanliegen in der Region Venetien eher düster aus, daher haben die Sieben Gemeinden sich schon 2007 in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit für einen Anschluss an die Region Trentino-Südtirol ausgesprochen, doch auf allen Seiten eine Abfuhr geholt.

Durch einen Zufall lernen wir Andrea Cunico Jegary kennen, der 2021 einen kleinen Führer über die zimbrischen Weg- und Ortsbezeichnungen in Rotzo (Rotz), seiner eigenen und einer kleinsten der Sette Comuni, der Sieben Gemeinden (Siben Komoinen), veröffentlicht hat: "Nomi, luoghi e comunità". Und er hat noch mehr geleistet: Er hat in seinem Führer nicht nur die zimbrischen Ortsbezeichnungen erklärt, sondern in freiwilliger Arbeit die Lokalitäten auch mit Tafeln beschriftet. Orangefarbige zweisprachige Wandertafeln führen über die Wege und zu den Weilern von Rotzo. Auf den Tafeln liest man Namen wie Langabégale (und hört heraus: das lange Wegerl), Khaltgruuba oder Pach.

Die alte Vielfalt#

Im Baatarlant, dem "Vaterland", sind die Ortsnamen weit mehr als topographische Angaben, schreibt Jegary. Er spürt ein weit verbreitetes und wachsendes Interesse an der Herkunft und Bedeutung der Orte, in denen die Leute der Sette Comuni leben. Es bestehe ein neues Bedürfnis, die Landschaft mit anderen Augen zu betrachten und die Namen als "lebende Fossilien" zu schätzen. Er fordert auf, in d’ögnarn taaldar (in unsere Täler) zu wandern und die Bedeutung der Ortsnamen wiederaufleben zu lassen. Das könnte der wahre Wert des Zimbrischen in der heutigen Zeit sein: Zu erkennen, wie vielfältig Europa ist oder vielerorts war, und diese Vielfalt als Vermächtnis zu pflegen.

Vielleicht werden nicht nur Menschen aus Verona (Bern, wie es die Zimbern nennen) oder Vicenza das Land der Zimbern und speziell Rotzo besuchen, um sich an der Geschichte und Besonderheit dieser "exotischen" Sprachinsel zu delektieren. Bisher kommen sie eher zum Wintersport. Vielleicht kommt auch öfter jemand aus Österreich. Wir haben einiges gutzumachen, denn österreichische Truppen haben im Ersten Weltkrieg 1916 die Sieben Gemeinden dem Erdboden gleichgemacht. Sie nannten es "Strafexpedition" - vielleicht, weil der erste Schuss, den die Italiener nach ihrem Seitenwechsel auf die Österreicher abgaben, angeblich aus dem Gebiet der Sieben Gemeinden gekommen war.

Gero Vogl, geboren 1941 in der damals deutschen Sprachinsel Bielitz, war Professor für Physik an der Universität Wien. Über Möglichkeiten des Erhalts der slowenischen Sprachinseln in Südkärnten und über die deutschen Sprachinseln in Südungarn hat er unter Anwendung physikalischer Methoden geforscht.

Wiener Zeitung, 12. Februar 2023